Frank Böckelmann

Thesen zum Selbstverständnis der antiautoritären Opposition

aus: Republikanische Verlagsgesellschaft 1, Stuttgart o.J., vermutlich 1968

"PRODUKTIONSVERHÄLTNISSE" - "HERRSCHAFT" - "SOZIALISTISCHE PRAXIS"

DISKUSSIONSBEITRAG FÜR DEN MÜNCHNER SDS, NOVEMBER 1967

Ich will beginnen mit einer Bestimmung sozialistischer Praxis heute, wie sie von der Mehrzahl der Mitglieder des SDS verwirklicht oder zumindest angestrebt wird. Diese Praxis versteht sich als Kampf gegen die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel zur Durchsetzung privater Interessen, dïe dem Interesse derMehrheit der Bevölkerung widersprechen, also als Kampf für Eigentumsverhältnisse, in denen die Produktivkräfte allgemeingesellschaftlich und im gemeinsamen Interesse aller ausgenutzt und entwickelt werden und in denen die Resultate gesellschaftlicher Arbeit den Bedürfnissen der Menschen entsprechend verwaltet und verteilt werden. Diese gesellschaftliche Strukturveränderung schließt ein: eine langfristige perspektivische und operative Planung, für die sich die Ausbalancierung einiger nur privater Interessen als unzulänglich erweist und die zentral unter Berücksichtigung allgemeiner Bedürfnisse organisiert werden muß, was nur durch Kontrolle der Eigengesetzlichkeit des Marktes möglich ist. Außerdem ist eingeschlossen: nicht nur die qualitative Mitbestimmung, sondern auch die Selbstbestimmung derer, die direkt oder indirekt an der Produktion des gesellschaftlichen Reichtums beteiligt sind; der Zusammenschluß zu Körperschaften und gesellschaftlichen Instanzen, in denen die Menschen demokratisch sich selbst verwalten und in denen der Aufbau von unten nach oben und die Abberufbarkeit der Funktionsträger gewährleistet ist. Dies bedeutet etwa für die Hochschule eine Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden, in der die Lernenden die Richtung und den Inhalt ihrer Ausbildung und Bildung selbst bestimmen und in der die Lehrenden vornehmlich die Aufgabe haben, die freie Selbstbestimmung zu fördern und in Einheit mit permanenter Kritik von seiten der Studenten Information, Analyse, kritisches Bewußtsein und Perspektiven der Wissenschaftsentwicklung zu vermitteln - also eine gemeinschattliche Verwaltung des Produktionsmittels Wissenschaft.

Ich darf unterstellen, daß diese Bestimmung des Ziels sozialistischer Praxis hier keinen Widerspruch erregt. Ich darf gleichfalls unterstellen, daß bei den meisten Sozialisten darüber kein Zweifel besteht, daß die Phänomene der "Entfremdung", der "Verdinglichung" und der "psychischen Repression" aufs engste mit dem Bestand kapitalistischer Tauschverhältnisse verbunden sind und daß der Kampf für sozialistische Produktionsverhältnisse zugleich ein Kampf gegen die Entzweiung des Menschen und die sogenannte "psychische Verelendung" ist. Die Marxisten vermeiden es, oft und ausführlich von "Selbstverwirklichung", vom "ganzen Menschen", von "Glück" und "Mündigkeit" zu sprechen. Sie machen nicht viele Worte, weil sie die materiellen historischen Voraussetzungen des ganzen Bereichs der Unterdrückung erkannt haben und weil jene Begriffe von den ökonomischen gewissermaßen mitgedacht werden. Obwohl sie also jene Differenzierungen von Herrschaft einerseits und Freiheit andererseits nur selten erwähnen, halten sie doch fest, daß es Marx nicht allein um andere VerwaItungsformen, sondern zugleich damit um die Umwälzung der Totalität der Herrschaft in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ging. Allein das unterscheidet die marxistische Theorie von ihren revisionistischen Ablegern. Dies sind Binsenweisheiten, und weil es Binsenweisheiten sind, glauben die Marxisten heute in ihrem Kampf gegen das Monopolkapital, gegen neofaschistische Auswüchse und die Erben des Imperialismus in einer ungebrochenen Kontinuität der Theorie und Praxis, in einer ungebrochenen Kontinuität des Widerstandes gegen das "Ganze" der Repression zu stehen. Mit anderen Worten, sie unterstellen stillschweigend, daß die sozialistische Praxis, wie sie oben skizziert wurde und wie sie von mir auch nicht in Frage gestellt wird, nach wie vor dieses "Ganze" trifft.

Tatsächlich war in dem von Marx aufgewiesenen Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Arbeit und privatkapitalistischer Aneignung durchaus der Widerspruch zwischen dem ganz bestimmten "Selbst", also der historischen, unaustauschbar qualitativen Bedürfnisstruktur des einzelnen Proletariers einerseits und der aufspaltenden, Besonderheiten nivellierenden, Fremdes und nicht Integrierbares produzierenden Lohnarbeit andererseits eingeschlossen. In diesem Zusammenhang wird der Entfremdungsbegriff sinnvoll, d.h. mit praktischen Inhalten gefüllt.1) Nicht als Hinzufügung und Korrektur, sondern als Interpretation des von Marx Gesagten ließe sich eine Sozialpsychologie der frühkapitalistischen Epoche schreiben, in der sich Kategorien wie "Verdrängung", "Sublimierung", "Aggression" und "Ödipuskonflikt" ohne weiteres aus der Funktion und den Repressalien im Produktionsprozeß ableiten ließen, als Symptome , die durch eine Aufhebung der Produktionsverhältnisse zugleich ihrer wirklichen, unmittelbaren und nahezu ganzen Energiequelle beraubt worden wären. Voraussetzung dafür waren erstens die Personalisierung und die erfahrene Fixierung der ausgeübten Herrschaft, zweitens die unabdingbare Einheit von Produktionsverhältnissen und unmittelbarer Repression zugunsten der Reproduktion und Zirkulation des gesellschaftlichen Gesamtkapitals, und drittens eine starke Abwehr gegen eine Aneignung oder Verinnerlichung autoritärer Funktionen, Leitziele und - Triebstrukturen, zumindest gegen eine Verinnerlichung die sich nicht auf die Konstituierung eines als Widerspruch erfahrenen und bekämpften - Über-Ichs beschränkt hätte.

Von psychischen Phänomenen gesondert zu sprechen ist erst historisch notwendig wenn jener enge und dialektisch einheitliche Zusammenhang zerrissen ist. Die Entstehung einer kritischen Sozialpsychologie und die Versuche, mit ihr den Historischen Materialismus zu ergänzen- siehe Reich, Fromm; die Frankfurter Schule; Erikson usw. - sind ein Beleg dafür. Vor allem aber belegen die Austauschbarkeit der spezifischen individuellen Bedürfnisstrukturen und die Funktionalisierung alles 'Naturwüchsigen sowohl die Auflösung der Bedingungen unter denen Entfremdung praktisch festgestellt, erlitten und bekämpft werden konnte, als auch die tatsächliche und nicht nur scheinhafte Individualisierung, d.h. Anonymisierung von Herrschaft und Autorität und die Überwindung des Widerstandes gegen Verinnerlichung von Repression. Unzählige Symptome könnten hier angeführt werden - etwa die Ersetzung primärer Triebziele durch sekundäre, so daß der Begriff der Verdrängung tendenziell sinnlos wird und eine Aufhebung der Entfremdung den Kampf gegen die reale Triebstruktur erforderte: also manipulierte unbewußt Kriterien bei der Partnerwahl; Fetischisierung dessen, was Fetischisierung durchbrechen könnte, der somatischen Lust (vermittels der in der Reizüberflutung allgegenwärtigen Fetischisierung der Vorlust: Vorlust und Lust entzweien, isolieren und verdringlichen sich); Subsumierung der Sexualität unters Leistungsprinzip (besonders eindeutig bei den Männlichkeitsneurosen der Arbeiter); das unaufhaltsame ambivalente Schwinden der Geschlechterspannung; - ferner die vorbewußte Selbstregulieurng im Sinne der Leistungsmaximierung in Lebensgewohnheiten, bei der Auswahl der Bekannten und nicht zuletzt bei den Aktionen und der theoretischen Arbeit der Linken selbst; das Eingehen menschlicher Beziehungen, die Investition von Gefühl möglichst nur im Tausch gegen einen Mehrwert an Gegenleistung; und schließlich die affektive und libidinöse Besetzung von Diffusionsquellen wie Massenmedien, Stereotypisierung der Arbeit und Zerstreuung um ihrer selbst willen. Das, was das Individuum als das "Eigene" und als "Spontaneität" erfährt, ist überwiegend bereits das introjizierte Nicht-Ich und Nicht-Es. Selbst das "Eigene" des kritischen Bewußtseins kann nur noch als ein "Verschwindendes" oder als "minimale Differenz" (nach PeterBrückner) bezeichnet werden. - Weder kann heute Herrschaft personalisiert und fixiert werden noch ist es zur Aufrechterhaltung der herrschenden Produktionsverhältnisse angesichts der Übernahme der Leistungsforderung durch das Individuum einerseits und des Anwachsens des gesellschaftlichen Reichtums andererseits notwendig unmittelbare Repression mit dem Arbeitsprozeß noch zu verbinden. Der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Arbeit und kapitalistischer Aneignung, der im Sinne der Werttheorie nach wie vor objektiv besteht, bezieht daher nicht mehr praktisch das Ganze der Herrschaft ein. Dies ist der Bruch in der sozialistischen Theorie und Praxis, der von den Sozialisten weniger geleugnet als vielmehr einfach außer acht gelassen wird.

Die Existenz auf Profitmaximierung abgestellter Produktionsverhältnisse, historisch die Bedingung für die Weitergabe von sexueller ich-schwächender und aufspaltender Repression durch den Vater an die Glieder der Familie stellt in einem Stadium in dem alle von Haus aus gelernt haben, nicht mehr Funktion und Eigenwert des Arbeitsprodukts, sondern die Leistung um ihres Gleichmaßes und ihrer Gleichgültigkeit willen zum Kriterium ihres Selbstverständnisses zu machen, nur noch ein stabilisierendes Moment unter anderen dar, während die Umwälzung der Produktionsverhältnisse des organisierten Kapitalismus nur noch ein allein unzulängliches emanzipatorisches Moment darstellt.Das heißt einerseits, daß von den empirisch nachprüfbaren Erfordernissen. der bestehenden modifizierten Warenumlaufstrukturen her gesehen die Fetischisierung der Leistung und damit die Verhinderung eines ich-starken kritischen Bewußtseins schon zum großen Teil aufgegeben werden könnte, daß aber die irrationalen ideologischen und autoritären Strukturen der ökonomisch-staatlichen Entscheidungsinstanzen, die diesen möglichen Abbau verhindern, nicht mehr unmittelbar und auch nicht mehr wenigstens indirekt, also im Sinne eines cultural lag, identisch mit der Existenz kapitalistischer Tauschverhältnisse sind. Das heißt einerseits, daß eine Entwicklung und Umwälzung in Richtung auf sozialistische Produktionsverhältnisse durchaus möglich ist, auch im Sinne einer Reproduktion der bestehenden ökonomischen Kapazitäten und Leistungsfunktionen, daß aber die Reaktionsweisen der Vorurteilsbildung, ambivalenter Identifizierungen mit staatlicher Macht, sadomasochistischer Syndrome und der mit Triebunterdrückung verbundenen Ichschwäche durchaus auch unter sozialistischem Vorzeichen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit fortbestehen würden - was übrigens die Vorteile sozialistischer Produktionsverhältnisse gegenüber kapitalistischen, vor allem in bezug auf eine Sicherung des Weltfriedens, keineswegs zunichte macht. Aber die oben getroffene Feststellung bedeutet wiederum einerseits, daß schon im Rahmen kapitalistischer Produktionsverhältnisse beim heutigen Stand der Mechanisierung und Automatisierung der Verzicht auf autoritäre Dispositionen und der Abbau emotioneller, sexueller und kommunikativer Frustrationen bis zu einem kleinen Grenzwert möglich wäre, und andererseits, daß dasselbe für bestehende oder bevorstehende sozialistische Verhältnisse gilt : Es führt nun nicht sehr weit, im Sinne einer Hochrechnung auf der Grundlage gegebener und tendenziell wirksamer Faktoren eine größere Wahrscheinlichkeit der Repressionsminderung für ein bestimmtes Syslem zu erkennen. Die dialektisch-materialistischeTheorie war keine Wahrscheinlichkeitsrechnung, sondern die Theorie einer bestimmten antagonistischen Totalität, in der ökonomische Kategorien gesamtgesellschaftliche implizierten, d.h. u:a. auch psychologische. Der Marxismus bedurfte durchaus nicht einer zusätzlichen Sozialpsychologie. Was sich heute, nach mindestens einhundertjähriger Verinnerlichung autoritärer Leistungsnormen und nach der Niederlage der organisierten .Arbeiterklasse in Westeuropa (in der Form von Teilerfolgen) geändert hat, ist nicht, daß alle Sektoren, Funktionen und Tendenzen der Gesellschaft in einem bestimmten Zusammenhang stehen. Auch bleibt die Einsicht in den historischen Werdegang der gegenwärtigen Verhältnisse, wie sie vom dialektischen Materialismus gewonnen wurde, unwiderlegt. Was jede kritische Analyse heute berücksichtigen muß, ist vielmehr eine Verselbständigung von Herrschaftssrtrukturen in dem Sinne, daß sich eine historische Wirkung nicht mehr durch die Aufhebung ihrer Ursache, weder unmittelbar noch mittelbar, rückgängig machen läßt. Wir müssen heute feststellen, daß die Zahl, die Komplexität, die Gewiohtigkeit und zugleich die Austauschbarkeit der zwischen Produktionsverhältnissen und ideologisch-psychischem Überbau eingeschalteten Institutionen, Mechanismen, Surrogate und Introversionen soweit zugenommen haben, daß die Auswirkungen einer noch feststellbaren Dialektik zwischen Unterbau und Überbau jederzeit abgeleitet und gedrosselt werden können, so daß eine Theorie, die vorwiegend auf dieser Dialektik aufbaut versagen muß. Dasselbe gilt für die ohnehin vielschichtigere Dialektik zwischen dem Fortschritt der Produktivkräfte, an dem die relative Rationalität oder Irrationalität des staatsmonopolistischen Kapitalismus gemessen werden kann, und der revolutionären Bereitschaft der Mehrzahl der Bevölkerung. Wenn wir einmal die Aufspaltung bzw. das Ignorieren der spezifischen individuellen Produktivkräfte, die Überfremdung der eigenen5pontaneität,die libidinöse Besetzung des Arbeits- und Freizeitprozesses, die Entfremdung zwischen Arbeit und Produkt, latente Aggressivität, Bereitschaft zur Unterwerfung und die Individualisierung der Triebkontrolle mit all ihren Implikationen als Niederschlag von Herrschaft bezeichnen, dann ist für die Epoche des frühen Konkurrenzkapitalismus eine fast unmittelbare dialektische Einheit von Produktionsverhältnissen und (dem Niederschlag von) Herrschaft festzustellen; beide Begriffe waren theoretisch nahezu und praktisch wirklich identisch. Innerhalb oligopolkapitalistischer Verhältnisse, die von der zunehmenden Bedeutung des interventionalistischen Staats und der Verselbständigung technologischer Rationalität geprägt werden, erkennen wir jene Dialektik als soweit abgeschwächt und entspannt, da sie als praktische nicht mehr Grundlage einer revolutionären Theorie sein kann. Der Bereich der notwendigen und erfahrbaren Auswirkungen der bestehenden Produkiionsverhältnisse ist bei weitem nicht mehr identisch mit der Sphäre sedimentierter Herrschaft. Der ökonomisch-politlsche Spannungsbereich, auf den sich die sozialistische Strategie heute konzentriert, ist nur noch ein Sektor des sich ausdehnenden Herrschaftsbereichs. Umgekehrt bringen wirkliche Enttabuisierungen, größere Bedürfnis befriedigungen und die mögliche Aufhebung der autoritären Persönlichkeit keine notwendigen Folgen für die Besitz- und Verwaltungsstruktur mit sich. Dies bedingt eine wesentlich größere wechseIseitige Autonomie von Produktionsverhältnissen und psychischen Syndromen in ihrem Verhältnis zueinander, als dies bisher der Fall war. Dies bedingt auch die Festigung der bestehenden Eigentumsverhältnisse durch irrationale, historisch anachronistische Ideologien und Reaktionsbildungen. Zwischen diesen und den Produktionsverhältnissen besteht aber kein unmittelbarer oder jedeneit dynamisierbarer vermittelter Zusammenhang mehr. Die verselbständigten Haltungen des Verfolgungswahns, der sich auf die Zeit zwischen den beiden Weltkriegenberuft und z.B. im blinden Zuschlagen der Exekutive bei Demonstrationen, in manchen Zügen des isolierten Klassenkampfes nur von oben oder in schwerwiegenden Polizeimaßnahmen gegenüber relativ schwachen Minderheiten augenfällig wird; der Rückgriff auf vertraute, aber sinnlos gewordene politische Schemata, die sich selbst nicht mehr verstehen können - diese psychotischen restaurierenden Strukturen der Angst, der Panik, der Rigidität und der Aggression realisieren sich heute in sämtlichen Bereichen der Produktions- und Konsumtionssphäre, des öffentlichen und privaten Lebens. Die. Sache, in der sie sich auswirken, ist austauschbar geworden. Gewiß kann noch von cultural lag gesprochen werden, aber die Perspektive, aus der dieses Hinterherschleppen aufgezeigt wird, ist heute schon geschichtsphilosophisch zu nennen. Es ist eine gefährliche Versuchung vor allem für marxistisch geschulte Theoretiker, historische Genese mit praktischer unmittelbarer Abhängigkeit gleichzusetzen und sozialpsychologisch komplexe Phänomene an den Ort ihrer Manifestation rückzukoppeln. Diese Versuchung geht konform mit dem Vertrauen auf die unmittelbare Einsicht und den gesunden Menschenverstand bei der Erfahrung des Zusammenhangs von Produktionsverhältnissen und Herrschaftssymptomen oder etwa dem Vertrauen in die Evidenz des proletarischen Klasseninteresses, das jederzeit wieder bewußt werden könne. Bewußt kann viel werden, Krisen und Umwälzungen können sich viele ereignen; schwerlich aber werden sich darin noch die dialektischen Kategorien der praktischen Theorie von Karl Marx realisieren, was zweifellos zur Analyse der historischen Situation und zur Entfaltung einer adäquaten revolutionären Strategie auch nicht notwendig ist.

Zu einem naheliegenden Einwand: Selbstverständlich können Unternehmer zu Recht fürchten. daß bei "technologischer Arbeitslosigkeit" oder infolge gewisser restriktiver Maßnahmen Unruhen entstehen, die bis zur Eigentumsfrage führen könnten, und deshalb - von ihrer Sicht aus scheinbar rational - einen Betriebsschutz aufbauen, der, so gesehen, keineswegs irrational zu sein scheint. Aber da der Zusammenhang der subjektiven Lebensinteressen; selbst der Affektbesetzungen des Unternehmers mit der objektiven ökonomischen Funktion, mit der Zwangsläufigkeit der Entscheidungen, denen auch der Unternehmer sich Unterordnen muß, völlig zerrissen ist ist die Situation, die Marx vorfand, nicht mehr gegeben, nämlich daß der Unternehmer primär zwar Charaktermaske des Kapitals und Vollstrecker der Gesetze des Kapitalumlaufs war, zugleich und notwendig aber auch sein subjektives Uberlebens-, Genuß- und ideologisches Selbstbehauptungsinteresse ihn zwang diese Funktion zu übernehmen. In einer Epoche unzureichender Produktionskapazität, also wirklichen Mangels, war er durchaus nicht nur Konkurrent anderer Unternehmer, sondern auch der Proletarier. Wenn auch diese Dialektik zwischen subjektivem Interesse urid objektiver Funktion des Unternehmers nahezu zerrissen ist, dann werden die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die für kein einziges existierendes unmittelbares Interesse mehr unersetzlich sind, gewissermaßen zu ontologischen, d.h. auch gänzlich zufälligen Verhältnissen, während die Verteidigung dieser Verhältnisse nur noch mit Hilfe von starren Projektionen unbelehrbarer Vorurteile jenseits des Existenz- und Genußinteresses - oder in der Maske dieses Interesses - möglich ist. Das, was unmittelbar beieinander ist, die Produktionsverhältnisse und die ideologischen Verfestigungen und rituellen Maßnahmen ihrer Verteidiger, klafft historisch und unter dem Aspekt seiner Veränderbarkeit weit auseinander. Die praktischen Konsequenzen sind evident: Die Umwälzung der Produktionsverhältnisse erscheint, sucht man nach Lebensinteressen, die diesen auf Gedeih und Verderben verpflichtet sind, das Leichteste zu sein - aber auch das Schwerste, in Anbetracht der Verankerung jener irrationalen Verselbständigungen in der Selbstwahrnehmung der Monopolherren und ihrer Treuhänder, in der Bürokratie, den Parteien, der Justiz und der Exekutive.

Zugleich ist die vollständige Funktionalisierung der Unternehmerpersönlichkeit ein Ausdruck der objektiven Transformation der kapitalistischen Produktionsverhältnisse selbst. Gernot Schubert stellt in einer Rezension von Fritz Naphtalis "Wirtschaftsdemokratie, ihr Wesen, Weg und Ziel" bezeichnende Veränderungen fest, um .ihre Konsequenzen dann auf gleichfalls bezeichnende Weise wieder aufzuheben. "Die von der Realität losgelöste Erwartung auf eine kontinuierliche Entwicklung zum Sozialismus erklärt sich aus Naphtalis oberflächlicher Analyse der Funktion des Staates und der Herrschaftsverhältnisse im organisierten Kapitalismus. Das entscheidende Kriterium sieht er nicht in den Machtverhältnissen, sondern in der Staatsform... Er übersieht auch die Funktion des Staats als Vertreter des Gesamtkapitals (nicht der Allgemeinheit!), so daß z.B. Verstaatlichungen im Interesse der Kapitalisten als Klasse gegen die Partialinteressen einzelner Kapitalisten durchgeführt werden können." 2) So sehr man diesen Feststellungen zustimmen muß, so sehr kann man bezweifeln, daß ihre Begriffe noch etwas aussagen. Gewiß ist Naphtalis Erwartung zu optimistisch, nicht zuletzt im Hinblick auf die oben genannten irrationalen Verselbständigungen. Auf was bezieht sich aber das kapitalistische Gesamtinteresse, wenn es nicht alle jene Kräfte meint, die das System tagtäglich reproduzieren helfen, wobei in gewissem Sinne auch die Abhängigen Repräsentanten des Systems und Komponente des kapitalistischen Gesamtinteresses sind? Gewiß muß das Interesse der Abhängigen von ihrem Klasseninteresse unterschieden werden, aber auch dieses darf nicht nur mehr objektivistisch feststellbar sein. Gewiß sind die Partialinteressen der integrierten Unternehmensführungen nicht einfach verschwunden, sondern wurden in der expandierenden Tätigkeit des "Gesamtkapitalisten" aufgehoben. Als aufgehobene aber wurden sie auch negiert und zwar wurde eben jenes Moment der objektiven Einheit von spezifischer Bedürfnisstruktur und allgemeiner Kapitalzirkulation negiert. Wo liegt nun aber der prinzipielle Unterschied zwischen der Negation eines Panialinteresses und einer Negation des kapitalistischen Gesamtinteresses? Dieser Unterschied kann nur noch mit Hilfe ökonomischer Kriterien, die nicht mehr Kategorien einer Revolutionslehre sind; beschrieben werden, etwa damit, daß eine Negation des kapitalistischen Gesamtinteresses implizierte, daß Güter und Arbeitskraft nicht mehr auf einem - mittlerweile gleichfalls institutionalisierten - Markt getauscht werden oder daß nicht mehr ein Teil von Surplus-Investitionen jeweils erst im nachhinein rationalisiert werden muß: Wichtig aber ist, daß Zwangsläufigkeit und Irrationalität, die kennzeichnend für den Ablauf der rationalisierten kapitalistischen Produktionsprozesse sind, nicht von der Kompenente subjektiv konkurrierender Interessen zu abstrahieren sind und daß der Begriff des Interesses nicht gänzlich unter objektive Abläufe subsumiert werden kann, sondern ein Moment des qualitativ Unaustauschbaren, Festen, eben Naturwüchsigen enthält. In den meisten marxistischen Untersuchungen über das Verhältnis von interventionalistischem Staat und Monopolkapital wird der Fortschritt des Einflusses des Monopolkapitals auf die staatlichen Eingriffe sehr konsequent beschrieben, der Begriff des Ihteresses aber undialektisch starr mitgeschleift und daher isoliert. Wenn im Machtinteresse des sogenannten "Gesamtkapitalisten" aber alles Subjektive dem Gesichtspunkt der Steigerung der Arbeitsproduktivität geopfert wird, kann dieses "Gesamtinteresse" nur noch als funktionaler Begriff gelten. Interessen, die subsumiert und funktionalisiert werden, verändern sich mit ihrer objektiven Funktion auch qualitativ; sie sind nicht mehr dasselbe, was sie vorher waren. Als negierte und aufgehobene verlieren sie auch ihre Naturwüchsigkeit. Und auch das oberste, nur noch objektivistisch angebbare Interesse, das an der Produktivität um ihrer selbst willen, verliert tendenziell jede Identität mit bestimmen Partialinteressen. Es ist das kapitalistische Partialinteresse überhaupt, und daher keines mehr. Dies natürlich nur unter der gleichzeitigen Voraussetzung, daß keine Mehrheit der Bevölkerung sich gegen das internalisierte Leistungsprinzip auflehnt - und dadurch das Prinzip produktiver Leistung als besonderes Interesse erkennt. Eigentum an Produktionsmitteln zu haben, ist tendenziell nur noch ein abstrakter Rechtstitel. Die Richtung aber in die die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel und deren Erzeugnisse ausgeübt wird wird nur noch von zwei Kriterien bestimmt: von der blinden Reproduktion der Entwicklungstendenzen des Gesamtkapitals selbst und von den völlig irrationalen Restbeständen des Antikommunismus und des faschistoid-autoritären Syndroms. Wenn sich die Sozialisten in ihrer Praxis auf die sogenannten "Herrschaftsverhältnisse" beschränken, die mit dem Bestehen staatskapitalistischer Produktionsverhältnisse identisch sind, so beziehen sie sich auf einen eingeengten aber gleichfalls sinnvollen Herrschaftsbegriff. Dieser engere Begriff umfaßt jenes Beharrungsvermögen des "Systems", das sich gegen seine Umfunktionierung in Produktionsverhältnisse wehrt, die krisensicherer, gerechter, konfliktfreier und ohne die Tendenz zur Expansion bestehen können, also sozialistisch sind. Gegen diese Herrschaft kämpfen teilweise die Gewerkschaften mit ihrer Forderung nach erweiterter Mitbestimmung (die zugleich eine neue Form der Verhinderung von antiinstitutioneller Selbsttätigkeit ist), die sozialistischen Verbände, die für eine Demokratisierung der Hochschule, der Massenmedien und der politischen Willensbildung eintreten, sowie jene heterogenen Kräfte des "sozialistischen Lagers", die unmittelbar oder mittelbar Strukturveränderungen in kapitalistischen Staaten und in den Ländern der Dritten Welt unterstützen. Dieser Kampf wird zweifellos weitergeführt werden. Er richtet sich gegen ein "System", das nicht mehr mit der Totalität der Tauschgesellschaft identisch ist, sondern weniger meint, nämlich einen Funktionszusammenhang von staatlich verwalteter Profitmaximierung, Warenproduktion und Konsumtion, an deren bestimmte Verteilung sich die Bedürfnisstruktur der Bevölkerung inzwischen angepaßt hat. Ferner ist kennzeichnend für dieses "System", daß es auf die relativen Unsicherheitsfaktoren pseudoprivater Schaltstellen und pseudoprivater einwirkender "Interessen" noch nicht verzichtet hat. Der Kampf gegen dieses "System" ist vorwiegend ein Kampf gegen ideologische und psychische, restaurierende und restriktive Verfestigungen, die nicht einmal mehr als relativ rational, sondern nur mehr als völlig irrational bezeichnet werden können und die zudem in diesem Kampf, sollte er auch siegreich enden, selbst nicht entscheidend getroffen und aufgehoben werden können, da für ihre Voraussetzungen die Sache, an die sie sich klammern - hier: funktionalisierte kapitalistische Produktionsverhältnisse - austauschbar geworden ist. Hier ist auch einzusehen, daß nicht nur der Widerstand, auf den die Sozialisten stoßen, sondern auch ihr eigener Impuls nicht mehr notwendige Folge der jeweiligen Stellung im Produktionsprozeß ist. In der Perspektive der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie bewegen sich heute Verteidigung wie Angriff im Klassenkampf, der nach wie vor geführt wird, vom Zwang der Notwendigkeit zur Entscheidung der Möglichkeit. Das Moment der Selbsttätigkeit sowohl der Erfahrung und ihrer Konsequenzen als auch des Kapitalumlaufs in Richtung auf die Verschärfung und Aufhebung der Antagonismen der bürgerlichen Gesellschaft geht verloren. Sowohl die sozialistische Kritik an der Blindheit des kapitalistischen Wirtschaftssystems als auch die mögliche geschichtsphilosophische Kritikam Ganzen an der Totalität, die sich als Herrschaft des Tausch- und Leistungsprinzips in entscheidender Weise festgesetzt hat, kann nur fortgesetzt werden, wenn man bereit ist, sich von Kriterien leiten zu lassen, die vom historischen Materialismus, d.h. von der Theorie der praktischen Dialektik der Tauschgesellschaft, nicht mehr notwendig und nicht mehr unmittelbar abgeleitet werden können.