Lesestück 9
Georg Lukacs
Methodisches zur Organisationsfrageaus: Dreßen, Wolfgang, Antiautoritäres Lager und Anarchismus, Rotbuch 7, Westberlin 1968, S.153ff
Das innere Leben der Partei ist ein ständiges Ankämpfen gegen ihre kapitalistische Erbschaft. Das entscheidende organisatorische Kampfmittel kann nur die Heranziehung der Parteimitglieder in ihrer Gesamtpersönlichkeit zur Parteitätigkeit sein. Nur wenn die Funktion in der Partei kein Amt ist, das ja eventuell mit voller Hingebung und Gewissenhaftigkeit, aber doch nur als Amt ausgeübt wird, sondern die Aktivität aller Mitglieder sich auf alle nur möglichen Arten der Parteiarbeit bezieht; wenn diese Tätigkeit noch dazu je nach den sachlichen Möglichkeiten abgewechselt wird, kommen die Mitglieder der Partei mit ihrer Gesamtpersönlichkeit in eine lebendige Beziehung zu der Totalität des Parteilebens und der Revolution, hören sie auf, bloße Spezialisten zu sein, die notwendig der Gefahr der inneren Erstarrung unterworfen sind. Auch hier zeigt sich wiederum die unzertrennbare Einheit von Taktik und Organisation. Jede Funktionärhierarchie in der Partei, die im Zustand des Kampfes absolut unvermeidlich ist, muß auf dem Geeignetsein eines bestimmten Typus der Begabungen für die sachlichen Anforderungen einer bestimmten Phase des Kampfes beruhen. Geht die Entwicklung der Revolution über diese Phase hinaus, so wäre eine bloße Änderung der Taktik, ja selbst eine Änderung der Formen der Organisation (etwa Übergehen von Illegalität zu Legalität) für eine wirkliche Umstellung zum nunmehr richtigen Handeln durchaus nicht ausreichend. Es muß zugleich eine Umstellung der Funktionärhierarchie in der Partei erfolgen; die Personenauswahl muß der neuen Kampfweise genau angepaßt werden. Dies läßt sich selbstredend weder ohne "Fehler" noch ohne Krisen verwirklichen. Die kommunistische Partei wãre eine phantastisch-utopische selige Insel im Meere des Kapitalismus, wenn ihre Entwicklung nicht ständig diesen Gefahren unterworfen wäre. Das entscheidend Neue an ihrer Organisation ist nur, daß sie in bewußter, in ständig bewußterer Form gegen diese innere Gefahr ankämpft.
Geht solcherart ein jedes Mitglied der Partei mit seiner ganzen Persönlichkeit, mit seiner ganzen Existenz in das Leben der Partei auf, so ist es dasselbe Prinzip der Zentralisation und der Disziplin, das für die lebendige Wechselwirkung zwischen dem Willen der Mitglieder und dem der Parteileitung, für das Zurgeltungkommen des Willens und der Wünsche, der Anregungen und der Kritik der Mitglieder der Leitung gegenüber zu sorgen hat. Eben dadurch, daß jeder Entschluß der Partei sich in Handlungen: sämtlicher Mitglieder der Partei auswirken muß, daß aus jeder Parole Taten der einzelnen Mitglieder zu folgen haben, in denen diese ihre ganze physische und moralische Existenz aufs Spiel setzen, sind sie nicht nur in der Lage, sondern geradezu gezwungen, mit ihrer Kritik sofort einzusetzen; ihre Erfahrungen, ihre Bedenken usw. augenblicklich zur Geltung zu bringen. Besteht die Partei aus einer bloßen, von den Massen der gewöhnlichen Mitglieder isolierten Funktionärenhierarchie, deren Handlungen gegenüber jenen im Alltag nur eine Zuschauerrolle zukommt, ist das Handeln der Partei als Ganzes nur ein gelegentliches, so entsteht in den Mitgliedern eine gewisse, aus blindem Vertrauen und Apathie gemischte Gleichgültigkeit den Alltagshandlungen der Partei gegenüber.
Ihre Kritik kann bestenfalls eine Kritik post festum (auf Kongressen usw.) sein, die selten einen bestimmenden Einfluß auf die wirkliche Richtung der Handlungen in der Zukunft ausübt. Dagegen ist die tätige Teilnahrne aller Mitglieder an dem Alltagsleben der Partei, die Notwendigkeit, sich mit ihrer Gesamtpersönlichkeit für jede Aktion der Partei einzusetz,en, das einzige Mittel, das einerseits die Parteileitung dazu zwingt, ihre Entschlüsse den Mitgliedern wirklich verständlich zu machen, sie von ihrer Richtigkeit zu überzeugen, da sie sie sonst unmöglich richtig durchführen könnten. (Je durchorganisierter die Partei ist, je wichtigere Funktionen auf jedes Mitglied - z. B. als Mitglied einer Gewerkschaftsfraktion usw. - gebürdet sind, desto stärker ist diese Notwendigkeit.) Andererseits müssen diese Auseinandersetzungen bereits vor der Aktion, aber auch während des Handelns gerade diese lebendige Wechselwirkung zwischen dem Willen der Gesamtpartei und dem der Zentrale herbeiführen; sie müssen modifizierend, korrigierend usw. auf den tatsächlichen
Übergang vom Entschluß zur Tat einwirken. (Auch hier ist diese Wechselwirkung desto größer, je stärker die Zentralisation und die Disziplin gestaltet sind.) Je tiefer diese Tendenzen sich durchsetzen, desto stärker schwindet die aus der Struktur der bürgerlichen Parteien überbrachte, schroffe und übergangslose Gegenüberstellung von Führer und Masse; wobei der Wechsel der Funktionärhierarchie noch stärker mitwirkt. Und die - vorläufig noch - unvermeidliche post festum Kritik verwandelt sich immer stärker in einen Austausrh konkreter und allgemeiner, taktischer und organisatorischer Erfahrungen, die dann auch immer stärker auf die Zukunft gerichtet sind. Die Freiheit ist eben - wie das schon die klassische deutsche Philosophie erkannt hat - etwas Praktisches, eine Tätigkeit. Und nur indem die kommunistische Partei zu einer Welt der Tätigkeit für jedes ihrer Mitglieder wird, kann sie die Zuschauerrolle des bürgerlichen Menschen der Notwendigkeit des unbegriffenen Geschehens gegenüber und ihre ideologische Form, die formelle Freiheit der bürgerlichen Demokratie wirklich überwinden. Die Trennung der Rechte von den Pflichten ist nur bei der Trennung der aktiven Führer von der passiven Masse, bei dem stellvertretenden Handeln der Führer für die Masse, also bei einer fatalistisch-kontemplativen Haltung der Masse möglich. Die wahre Demokratie, die Aufhebung der Trennung rler Rechte von den Pflichten ist aber keine formelle Freiheit, sondern eine innigst verknüpfte, solidarische Tätigkeit der Glieder eines Gesamtwillens.