Bernd Rabehl
Oktoberrevolution

Vorwort
aus dem Reader mit Texten von Lenin, Trotzky und Preobraschenki veröffentlicht im Oktober 1967 bei der Oberbaumpresse Berlin

Siegreiche Revolutionen sind die gewaltigsten Produktivkräfte in der Geschichte. Die Zerstörung der alten Produktionsverhältnisse und der daraus entstandenen Klassenstrukturen wird zu einer schaffenden Kraft, die die neue Gesellscbaft errichtet, dabei den alten Uberbau, den staatlichen Zwangsapparat, die Herrschaftsideologien, Religionen und Traditionen radikal beseitigend. Die historische Mission der proletarischen Klasse ist dabei, den Stand der Industrialisierung auszunutzen, um eine herrschaftslose, sozialistische Gesellschaft zu errichten.

Alle Revolutionen, ob sie die ganze Gesellschaft erfassen und von Grund auf umstürzen oder durch die Konterrevolution niedergeschlagen werden, sind Lehrstücke für die revolutionäre Theorie, ihr konstitutives Element. Oft genug wurde von Marx betont, daß die Theorie nur Anleitung für die revolutionäre Praxis werden kann, zur materiellen Gewalt wird, wenn sie die konkrete Situation erkennt, die sozioökonomischen Bewegungsgesetze aufnimmt und dadurch die Bedingungen des Klassenkampfes analysiert. Die Theorie ergreift die Massen, gibt den abhängigen Klassen im Produktionsprozeß Aufklärung über ihre Lage, wenn sie an ihre Bedürfnisse anknüpft, ihr Selbstbewußtsein gegenüber der herrschenden Ideologie stärkt und die organisatorischen Voraussetzungen für den Kampf einsichtig macht.

Die Aktualität der Revolution, die Krise der bürgerlichen Ordnung, hervorgerufen durch ökonomische oder politische Krisen, ist der Prüfstein der Klassen, ob sie sich zum Kampf entscheiden, in ihrem Emanzipationsstreben die neue Gesellschaft hervorbringen oder sich auf die Seite der Reaktion schlagen, um die Verhältnisse der Gesellschaft zu konservieren. Die Ereignisse von 1848 und 1871 bewiesen die Richtigkeit der Marxschen Kritik der bürgerlichen Ideologie und der politischen Ökonomie, indem sie zeigten, daß die Bourgeoisie ihre historische Mission der Akkumulation des Kapitals bei gleichzeitiger Demokratisierung der Gesellschaft ideologisch und praktisch aufgegeben hatte und sich aussöhnte mit den reaktionären Klassen, den Staatsapparat und den Parlamentarismus als Werkzeug des Bürgerkrieges benutzend, um die revolutionäre Klasse niederzuhalten.

Der historische Materialismus ist die Theorie der Revolution. Aus dem politischen Verhalten der Bourgeoisie, aus ihrem Vorgehen mit Hilfe der staatlichen Gewalt gegen die unterdrückten Klassen, aus ihrer Heuchelei und ihrem Verrat in der Geschichte der 50jährigen Konterrevolution definierte Marx seine Theorie des Staates und der Volksrevolution. Gerade die besiegten Revolutionen wurden durch ihre theoretische Verarbeitung die Voraussetzung und der Prolog zukünftiger Revolutionen.

Lenins Analyse der Revolution von 1905 in Rußland, die Auseinandersetzung mit dem Liberalismus, Sozialdemokratismus und Marxismus, war seine theoretische Vorbereitung der Oktoberrevolution. Die Auswahl der Texte soll drei Etappen der russischen Revolution verdeutlichen. Die Aprilthesen von 1913 mit ihrer Proklamation der Doppelherrschaft sind eine Absage der proletarischen Klasse an die bürgerliche provisorische Regierung, die weder Frieden mit Deutschland schließen noch den Bauern Land geben noch die Wirtschaft weiterführen konnte.

Die Herrschaft der Räte, der Kampforgane der Arbeiter, ist die direkte Negation des bürgerlichen Staates und damit der bürgerlichen Klassen. Die Einführung der .Neuen Ökonomischen Politik bedeutet unter russischen Verhältnissen nach dem Kriegskommunismus die Zulassung des kapitalistischen Warenmarktes und damit die Stärkung der kleinbürgerlichen Klasse der Bauern. Bei der Analyse der sowjetischen Gesellschaft unter dem Vorzeichen der NEP - proletarischer Staat, verstaatlichte Großindustrie und Wirtschaftsplanung stehen dem kapitalistischen Warenmarkt, der Kleinindustrie und den bürgerlichen Klassen gegenüber, was ïn ökonomischen Kategorien ausgedrückt heißt, daß zwei qualitativ verschiedene Gesetze der Akkumulation sich gegenüberstehen - versucht Preobraschenski den Kulminationspunkt herauszufinden, wo beide Gesetze notwendig zusammenstoßen. Politisch bedeutet die Konfrontation Bürgerkrieg zwischen Proletariat und Bauernschaft. Der proletarische Staat, die Arbeiter müssen sich auf diese Auseinandersetzung vorbereiten, durch Kampagnen und Aufklärungsfeldzüge die Zwischenschichten mobilisieren und den Klassenkampf direkt aufs Dorf tragen, damit die reaktionären Fraktionen der Bauernschaft isoliert werden.

Die Vorformen des Klassenkampfes - vor allem in Deutschland -, die sich in den einzelnen sozialistischen Sekten und Gruppierungen zeigen, werden durch die Gegenmaßnahmen der herrschenden Klasse gezwungen, die Organisationsfrage zu stellen. Bisher wurde versucht, die fehlenden historischen Bedingungen und Dixpensionen durch die phantastischen Pläne einer neuen Gesellschaft oder durch moralische Postulate und abstrakte Solidarität zu kompensieren.

"Von dem Moment an, da die Bewegung der Arbeiterklasse Wirklichkeit wurde, schwanden die phantastischen Utopien, nicht weil die Arbeiterklasse das Ziel aufgegeben hatte, das diese Utopisten anstrebten, sondern weil sie die wirklichen Mittel gefunden hatte,sie zu verwirklichen, weil an die Stelle phantastischer Utopien die wirkliche Einsicht in die historischen Bedingungen der Bewegung trat und die Kräfte für eine Kampforganisation der Arbeiterklasse sich immer mehr zu sammeln begannen." (Marx, Bd.17, S. 557, erster Entwurf zum "Bürgerkrieg in Frankreich".)

Die deutsche Arbeiterklasse erlangt das Bewußtsein ihrer Lage und muß dabei gleichzeitig ihre "Vergangenheit" überwinden, erkennen, warum das deutsche Proletariat in den zwanziger und dreißiger Jahren besiegt wurde. Der historische Materialismus als Theorie der Revolution kennt keine geschichtlichen Tabus - die Niederlagen, werden die Ursachen historisch analysiert, sind die Vorbedingungen zukünftiger Siege.

Die Feier zur Oktoberrevolution darf keine Gedenkstunde werden mit kulturellen und akrobatischen Darbietungen, umrahmt durch den Pathos feierlicher Phrasen, sie darf nicht zum Volksfest werden wie die Gedenktage der französischen und amerikanischen bürgerlichen Revolutionen, die in der Tat allen Grund haben, die Deklarationen des Liberalismus zu verschleiern. Die Arbeiterbewegung in den stagnierenden Industriezweigen, die Streiks im Ruhrgebiet, in Berlin und Norddeutschland sind die einzige Ehrung, die der Oktoberrevolution würdig ist.

Die Lehren des Oktober von Trotzki sind ein Moment der Polemik im Fraktionskampf innerhalb der KPdSU, in der er den sozialistischen Konservatismus anprangert, der die Parteiorganisation nicht mehr im Kontext des gesellschaftlichen Milieus reflektiert, sie nicht mehr als Erziehungs- und Kampforgan versteht. sondern sie dogmatisch über die Gesellschaft als pseudostaatliche Institution etabliert: die Verbindung zu den Massen geht verloren. Die Theorie erstarrt zum Dogma, was sich darin äußert, daß die eigene Revolution nicht mehr begriffen und der momentane gesellschaftliche Zustand heroisiert wird.

In der 50jährigen Jahresfeier der sozialistischen Oktoberrevolution repräsentiert sich die Sowjetunion als Industriegigant mit einer riesigen Produktionskapazität, als Großmacht, die dem amerikanischen Imperialismus verdeutlicht, daß die aggressive Politik gegen das sozialistische Lager und gegen die Dritte Welt nicht beliebig ausgedehnt werden kann.

Unbekannt bleibt auch an díesem Tage die Lehre des Oktobers, die konkreten Klassenkämpfe in der sozialistischen Gesellschaft von 1913 bis 1927, das Problem der Diktatur des Proletariats, der Transformationsperiode von kapitalistischer in die sozialistische Räte-Gesellschaft, des selbstbewußten Proletariats.

Aber gerade ein Problembewußtsein über die schwierigen Jahre der Sowjetunion nach der Machtergreifung der Bolschewiki kann das Phänomen des Stalinismus erklären und ihn als historisch bedingt - nicht wiederholbare Diktatur über die Diktatur des Proletariats - erkennen und damit die Möglichkeit definieren, die eine Gesellschaft in ähnlicher Lage hat, um durch breite Kampagnen im Volke eine Verselbständigung von Partei und sozialistischem Staat zu verhindern. Das Wissen vom Roten Oktober kann allein das Trauma des Stalinismus aufheben, von dem gerade die deutsche Arbeiterschaft befallen ist, verstärkt durch die Manipulation des Antikommunismus durch den kapitalistischen Staat.

Im Jahre 1967 stehen wir im Weltmaßstab vor dem Anschwellen einer neuen revolutionären Periode, die Klassenkämpfe und Volkskriege gegen den Imperialismus in der Dritten Welt praktizieren schon jetzt die Doppelherrschaft zu den Marionettenregierungen und Oligarchien. Die Konterrevolution erzeugt die Gegengewalt der aufständischen Klassen, die Volksrevolutionen entwickeln in ihrem Kampf bereits die neuen Formen der sozialistischen Gesellschaft. Die Lehre der Oktoberrevolution würde viele Umwege ersparen und die kämpfenden Klassen heraushalten aus dem scholastischen Streit zwischen der Sowjetunion und China, das als solcher erscheinen muß, solange die beiden Positionen nicht historisch genetisch aus der Geschichte der Revolutionen bewiesen werden.