Aufruf zum Ostermarsch 1966
Die Menschheit muß dem Krieg ein Ende setzen, sonst setzt der Krieg der Menschheit ein Ende. Krieg in Vietnam, Krieg um Kaschmir, Kriegsgefahren in anderen Teilen der Welt erinnern an die Wahrheit dieses Satzes.
Quer durch die politischen Systeme wird heute anerkannt, daß Abrüstung erreicht werden muß, wenn die Gefahr der Selbstvernichtung der Menschheit ausgeschaltet werden soll. Wissenschaftler und Politiker, die Versammlung der Vereinten Nationen, der Weltkirchenrat und die internationale Gewerkschaftsbewegung mahnen zu einer Haltung, die auch Papst Paul VI. vor der UNO ausgesprochen hat: "Niemals mehr Krieg! Es ist der Friede, der das Schicksal der Völker und der Menschheit bestimmen muß!"
Dennoch geht der Rüstungswettlauf weiter. Neue Mächte streben nach Besitz oder Verfügungsgewalt über atomare Vernichtungswaffen. In allen industrialisierten Nationen wird ein hoher Anteil der Volkseinkommen für den Rüstungsetat verbraucht und damit sozialen und kulturellen Aufgaben entzogen.
Die Steigerung der Rüstung und die Einbeziehung in atomare Waffensysteme schaffen gerade in jenen Gebieten erhöhte Kriegsgefahr, die an den Nahtstellen unterschiedlicher politischer Systeme, an den Berührungspunkten der Machtblöcke liegen. Der Krieg in Vietnam zeigt, welche Folgen eine Politik militärischer Stärke in Gebieten politischer Spannungen hat.
Angesichts dessen wird heute, wiederum quer durch die politischen Systeme, immer dringlicher die Forderung gestellt, in begrenzten Räumen Sicherheit durch Rüstungsbeschränkung und Rüstungsabbau zu schaffen. Regionale Rüstungsbeschränkungen kann Wege zur politischen Lösung bestehender Konflikte ebnen und Möglichkeiten einer allgemeinen und weltweiten Abrüstung eröffnen, ohne dieser oder jener Seite einseitige Vorteile zu verschaffen.
Dies trifft insbesondere für Mitteleuropa und für Deutschland zu. Hier liegt einer der Krisenherde der Weltpolitik, in denen der Rüstungswettlauf zu einem dritten Weltkrieg führen kann, Ein Krieg in Mitteleuropa wäre das Ende der Existenz unseres Volkes. Die Vernunft gebietet gerade uns Deutschen eine Politik ' der friedlichen Lösungen, des Verhandelns, der Sicherheit durch Abrüstung. Die Regierung der Bundesrepublik hingegen hat bisher weder eigene Initiativen zur Abrüstung entwickelt, noch Abrüstungsvorschläge, die von Politikern aus Ost und West für Mitteleuropa vorgelegt wurden, auch nur zum Gegenstand von Verhandlungen gemacht. In unverantwortlicher Weise wurde von den führenden Politikern der Bundesrepublik jede ernsthafte Bemühung um eine europäische Sicherheitspolitik unterlassen. Statt dessen wurde in der Bundesrepublik eine Politik betrieben, die auf Verfügungsgewalt über Atomwaffen hinzielt, den Rüstungswettlauf steigert und mit Notstandsgesetzen verfassungsmäßige Grundrechte abbaut. Führende Politiker der Regierungspartei haben damit gedroht, daß die Bundesrepublik ihren Verzicht auf eigene Produktion von Atomwaffen wieder rückgängig machen könnte. Diese Politik hat Fortschritte der internationalen Rüstungsbeschränkung blockiert, so etwa ein Abkommen gegen die Weiterverbreitung von Atomwaffen; sie hat zugleich die Kriegsgefahr in Mitteleuropa gesteigert.
Wir können uns mit dieser Entwicklung nicht abfinden. Wir stimmen dem Deutschen Gewerkschaftsbund, kirchlichen, anderen gesellschaftlichen Gruppen und jenen deutschen Politikern zu, die fordern, daß die Bundesregierung eigene Schritte für eine Politik der Abrüstung unternimmt. Die Kampagne für Abrüstung hat mit ihrem "Sofortprogramm für Sicherheit durch Abrüstung in Mitteleuropa" beschrieben, wie die verantwortlichen Politiker der Bundesrepublik den verhängnisvollen Weg des Rüstungswettlaufs verlassen könnten. Für eine solche Politik tritt die Kampagne mit den Ostermärschen 1966 ein.
Die Vorschläge der Kampagne für Abrüstung lauten:
Vertrag gegen die Weiterverbreitung von Atomwaffen
Die Bundesrepublik soll den Abschluß eines Vertrages gegen die Weiterverbreitung von Atomwaffen nicht länger durch ihre Forderung nach atomarer Verfügungsgewalt blockieren.
Stopp der Rüstung auf beiden Seiten
Die Bundesrepublik, Polen, die CSSR und die DDR sollen den endgültigen Verzicht auf Herstellung, Erprobung und Besitz vorl Atomwaffen, auf jede Verfügung über Atomwaffen sowie jede Beteiligung an atomaren Waffensystemen erklären.
Die Kernwaffenbestände im Gebiet dieser Länder sollen nicht weiter vermehrt werden.
Die Rüstungsetats dieser Länder sollen nicht weiter gesteigert werden.
Herabsetzung der Rüstung auf beiden Seiten - Atomwaffenfreie Zone
Die Rüstungsetats in den vier Ländern sollen stufenweise verringert werden. Die Bundesrepublik Deutschland, Polen, die CSSR und die DDR sollen den Verzicht auf die Lagerung fremder Atomwaffen erklären und die Bildung einer international kontrollierten atomwaffenfreien Zone einleiten.
Eine europäische Sicherheitskonferenz soll einberufen werden.
Mitarbeit an der Strategie des Friedens - Forschung und Erziehung für Abrüstung
Die Bundesrepublik soll die Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten ausbauen, um die Entspannung in Europa voranzutreiben.
Die Bundesrepublik soll alle Vorschläge unterstützen, die auf die Erweiterung des atomaren Teststopp-Abkommens, ein Abkommen zur Verhütung von Überraschungsangriffen und eine allgemeine kontrollierte Abrüstung hinzielen.
Die Bundesrepublik soll das Amt für Fragen der Rüstungskontrolle und Abrüstung instandsetzen, die hier vorgeschlagenen politischen Schritte fachlich vorbereiten.
Der Deutsche Bundestag soll einen Ausschuß für Abrüstungsfragen bilden.
Die Bundesrepublik soll Forschungsarbeiten zu Fragen der Rüstungskontrolle, der Abrüstung und der internationalen Zusammenarbeit fördern und solche Themen zum Gegenstand der Schulbildung und der außerschulischen Bildung machen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, sich international für die Einstellung der Kampfhandlungen in Vietnam auf der Grundlage des Genfer Abkommens von 1954 einzusetzen und keine Hilfe für den Krieg in Vietnam zu gewähren.
Mit diesen Vorschlägen der Kampagne für Abrüstung ist eine realistische Alternative zur bisherigen Politik der Bundesregierung beschrieben. Diese Politik der Sicherheit durch Abrüstung ist zugleich ein Beitrag zum Ausbau der Demokratie und eine Alternative zu jener Militarisierung des öffentlichen Lebens, wie sie in den Notstandsgesetzen Ausdruck findet. Es liegt im Interesse der Demokratie, zusätzliche Notstandsgesetze zu vermeiden und die bereits beschlossenen Notstandsgesetze wieder rückgängig zu machen.
Wer es gut meint mit Deutschland, tritt für eine Politik der Entspannung und Abrüstung ein. Wer der Sache der Abrüstung zustimmt, sollte die Kampagne für Abrüstung zu seiner Sache machen. Wir bitten unsere Mitbürger:
Prüfen Sie die Vorschläge der Kampagne für Abrüstung.
Sorgen Sie für eine Diskussion über einen Beitrag der Bundesrepublik zur Abrüstung. Arbeiten Sie mit in den Ausschüssen der Kampagne für Abrüstung, die unabhängig von jeder parteipolitischen Bindung ist.
Nehmen Sie teil an den Ostermärschen 1966.
Dem Ostermarschaufruf haben sich bisher folgende Persönlichkeiten angeschlossen:
Dr. Günther Anders, Lothar Beck, Elisabeth Bergner, Prof. Dr. Ernst Bloch, Hedwig Born, Staatssekretär a. D. Prof. Dr. Eduard Brenner, Walter Buckpesch, Prof. Dr. Georg Burckhardt, Prof. D. H. Conzelmann, Heinz von Cramer, Siegfried Einstein, Hans Magnus Enzensberger, Herbert Faller, Prof. Dr. von Frankenberg, Christian Geissler, Prof. Dr. Theo Gläß, Hermann Henry Gowa, Prof. Dr. med. Kurt Gröbe, Prof. Johannes Harder, Prof. Dr. Gustav Heckmann, Prof. Dr. H. M. Heinrichs, Prof. Dr. Heinz-Joachim Heydorn, Prof. Walter Jens, Prof. der Musik Johannes Kaan, Oberkirchenrat Dr. Heinz Kloppenburg DD, Prof. H. G. von Klöden, James Krüss, Dr. med. habil. Bodo Manstein, Prof. Dr. Alfred von Martin, Frans Masereel, Richard Münch, Prof, Ernst Niekisch, Weltkirchenratspräsident D. Martin Niemöller DD, Hinrich Oetjen, Philipp Pleß, MdL, Prof. Rasenberger-Koch, Prof. Dr. Hans Rheinfelder, Kurt Sprenger, Horst Symanowski, Paul Schallück, Helmut Schauer, Oberbürgermeister i. R. Robert Scholl, Gösta von Uexküll, Martin Walser, Gerhard Weber, Prof. Dr. Wilhelm Weischedel, Prof. Dr. Dr. Ernst Friedrich Wolf, Ursula Rusche-Wolters.
Aus: aktion 7, S. 3, Dezember 1965