Eric

Tischvorlage zu Redaktionssitzung am 13.5.1997

TOP: Aufruhr & Revolte / trend-Serie 2.Juni 1967

Die Veröffentlichung alter Texte, ihre erneute Rezeption hat nur dann einen Sinn, der über das reine Erinnern hinausgeht, wenn sie auch heute noch dazu beitragen können, Probleme zu benennen, zu beschreiben und zu analysieren, die nach wie vor einer Lösung bedürfen. Das heißt nicht, daß z.B. der Vietnamkrieg damit heute ausgeblendet gehört. Der Krieg in Vietnam ist zwar beendet, seine Folgen aber sind keineswegs überwunden. Tschombé, der 1961 mit Hilfe der CIA Patrice Lumumba ermorden konnte und gegen den sich 1965 die erste militante Demonstration in Berlin richtete, wurde zwar schon lange von Mobutu beseitigt, aber beider Gegenspieler, Laurent Kabila, unter dessen Kommando Che Guevara 1965 ein kubanisches Guerillakontingent zur Unterstützung der kongolesischen Revolution anführte, hat den Kampf wieder aufgenommen. Der Iran erlebte zwar eine klassische Revolution, aber nicht die, die die Akteure des 2. Juni sich erhofften. Im Gegenteil, die islamischen Revolutionäre lassen nun selbst in Berlin morden. In Peru bildeten sich unter Führung von Hugo Blanco und Camilo Torres die ersten Guerillagruppen, 30 Jahre später werden die neuen Companeros brutal ermordet, auch wenn sie sich ergeben und niemanden selbst getötet haben. 1968 werden auf dem Plaza de las Tres Culturas de Tlatelolco im Zentrum von Mexico City die protestierenden Studenten zusammengeschossen, wobei über 200 Tote zu beklagen waren, und heute müssen die Zapatisten gegen die gleichen ökonomischen und politischen Strukturen ankämpfen.

Was für den Komplex Imperialismus/Neoimperialismus gilt, läßt sich ohne weiteres auf andere Bereiche übertragen. Der Muff unter den Talaren wurde zwar der Frischluft ausgesetzt, aber die Fenster sind schon längst wieder geschlossen. Die Kleinfamilie wurde zwar in seiner Funktion als Grundpfeiler der Gesellschaft infrage gestellt, aber nichts trat an ihre Stelle. Autoritäre Verhaltensweisen und Herrschftsformen wurden zwar hart angegangen, aber die Ökonomie und der Staat blieben unverändert. Der Marsch durch die Institutionen blieb in der Modernisierung der Umgangsformen hängen. Selbst die Bewältigung der faschistischen Vergangenheit ist nicht erledigt und muß sogar erweitert werden um die Bewältigung der gegenwärtigen faschistischen und rassistischen Realitäten. Der moderne Feminismus hatte seinen take off, aber er lief ins Leere. Frauen sind neben den Immigranten wieder die ersten, die ihre Jobs verlieren.

Angesichts dieser langen Liste von ungelösten Konflikten und Problemen stellt sich nicht die Frage, welche Texte noch relevant sind, sondern welche Texte vernachlässigt werden können. Im Rahmen einer on-line Publikation sind ohnehin medienbedingte Grenzen gesetzt, d.h. die auszuwählenden Dokumente müssen möglichst kurz sein, sie sollen Authentizität vermitteln und die dazugehörige Praxis veranschaulichen. Inhaltlich sollen sie das breite Spektrum der Bewegung widerspiegeln.

Wenig Erkenntniswert läßt sich aus der zahlreichen Renegatenliteratur ziehen. Zumeist wird dort das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Insbesondere Leute, die sich in rigide Politsekten geflüchtet hatten, versuchen häufig im Nachhinein sich von diesen Verstrickungen loszusprechen und verdammen mit ihrem falschen organisatorischen Ansatz auch gleich den Versuch, in die Geschichte einzugreifen, die zudem häufig noch dazu uminterpretiert wird. Ausbeutung und Unterdrückung wird nicht mehr als Imperialismus wahrgenommen, sondern nur noch durch die Brille der Standortfrage betrachtet. Die eindimensionale Gesellschaft wird als Zivilgesellschaft apostrophiert. Die Versuche des Sozialismus werden mit dem Archipel Gulag gleichgesetzt etc.

In der bisherigen Aufarbeitung, 10 Jahre nach 68 bzw. 20 Jahre nach 68, wurden wichtige Frage weder aufgeworfen noch beantwortet: Warum trat die Revolte fast gleichzeitig in so vielen Ländern auf? Hatten diese Länder irgendetwas grundlegend Gemeinsames? Gab es ein Zentrum, von dem alles ausging? Welche Unterschiede gab es? Wie ist die spezifische Bewegung in Deutschland im Vergleich zu bewerten? Warum brach sie überall fast gleichzeitig zusammen? War sie singulär oder kann sich Vergleichbares zukünftig wiederholen?

TREND soll versuchen, diese Fragen als strukturierendes Element bei der Zusammenstellung der Dokumentation zu berücksichtigen. Am Ende sollen Antworten sichtbar und öffentlich zur Diskussion gestellt werden.