Aus den Anfängen der Berliner Jugend- und Studentenbewegung

Brigitte Müller-Bilitza und C. Wolfgang Müller:
Club Ca ira
Quelle: deutsche jugend, november 1966, Hrg. Dt. Bundesjugendring, München 1966, S. 505ff


Dieser Bericht ist parteilich. Die ihn geschrieben haben, waren vom ersten Tage an mehr oder weniger aktiv am Aufbau der Sache beteiligt, die jetzt „Club Ca ira" heißt. Sie berichten deshalb nicht immer mit der für den professionellen Journalisten angemessenen Distanz. Sie waren engagiert und sie sind es noch. Trotzdem haben sie versucht, ein Stück Wirklichkeit zu schildern und nicht ihre Wunschvorstellungen. Die den „Club Ca ira" kennen, werden beurteilen müssen, inwieweit ihnen dies gelungen ist.

Die Münstersche Straße in Berlin-Wilmersdorf ist kurz, schmal und tot. Dörfliches Kopfsteinpflaster entmutigt jeden Autofahrer, der sich vom verkehrsreichen Fehrbelliner Platz oder von der geschäftigen Ku-Damm-Gegend hierher verirrt haben könnte. Am einen Ende der Straße baut die Evangelische Kirche, am ande­ren Ende haust ein Grünwarenhändler in einer Holzbude. Eine zweite Holzbude steht in der Mitte der Straße. Sie wurde von den Wasserwerken errichtet und diente dem Jugendamt des Bezirkes Wilmersdorf als provisorisches Freizeitheim. Im Frühjahr 1966 wurde hinter dem Provisorium ein neues, ebenerdiges Jugend­heim bezugsfertig. Heimleiter Heiner Zenke zog um, und die Bude stand wieder leer. Für genau eine Woche. Dann zogen neue Leute ein, mit Gitarren, Platten­spieler, Farbtöpfen und zwei Klavieren. Berlins jüngste Literaten und Folkloristen hatten sich erfolgreich nach einem Aktionszentrum umgesehen.



Ca ira - Flugschrift Winter 1967

Quellen: norwegisches Sommerlager und amerikanische Folksong Revival

Der Boden für Berlins ersten nicht-kommerziellen Literaten- und Folklore-Club war vorbereitet. Wie immer bei solchen Sachen kamen mehrere Faktoren zusam­men. Da waren zunächst die Erfahrungen eines Teams, das in norwegischen Sommerlagern neue Methoden kultureller Freizeitaktivitäten entwickelt hatte. Man hatte dort einen Beat-Schuppen eingerichtet, der jeden Abend von tanz-
freudigen jungen Berlinern überschwemmt war. Dann war da noch der Lagerfunk. Seine Redakteure, Ansager und Schallplatten-Jockeys fühlten sich für möglicher­weise vorhandene gehobenere kulturelle Ansprüche zuständig. Um sie herum kristallisierte sich so etwas wie ein politisch-literarischer Club mit Lesungen, Hör­bildern, Diskussionen und Susanne, einem schwarzhaarigen Meissner Porzellan-Mädchen mit Guitarre und Joan-Baez-Stimme. In Erwartung eines Besuchs von Wolfgang Neuß, der damals noch im „Domizil" am Berliner Lützow-Platz seine „Jüngsten Gerüchte" verbreitete, nannten sie sich auch „Domizil" (deutsche Jugend, Augustheft 1966, S. 371 ff.) und lockten unter anderem Hans Magnus Enzens-berger für zwei Tage in ihren Club. Nach Berlin zurückgekehrt, wurden die Domizil-Aktivisten von der Frage verfolgt, ob man einen solchen Club für Jung­arbeiter und Schüler auch im Berliner Alltag etablieren könne.
Und dann war da die Folksong Revival an den amerikanischen Colleges und Uni­versitäten. In den fünfziger Jahren hatte in San Francisco das Kingston Trio angefangen, alte anglo-amerikanische Volkslieder aufzupolieren. Die Weavers folgten („Love is sweeter than wine", „Lemmon tree"), und ein Sänger der Weavers, Pete Seeger, wurde Anfang der sechziger Jahre zum Vorbild einer neuen Generation von Protestsängern im Volkston. Diese Junge Generation der Joan Baez, Bob Dylan, Tom Paxton, Phil Ochs und Peter LaFarge war am alten Volkslied nicht um seiner selbst willen interessiert — gewissermaßen, weil es zum nationalen Kulturerbe gehörte —, sondern weil man mit ihm etwas machen konnte: Sie wollten mit ihren Liedern etwas aussagen und etwas verändern. Sie fingen an, neue, zeitbezogene Texte auf die alten Melodien zu machen, und sie fingen an, eigene Lieder im Volksliedton zu erfinden. Der „topical folksong" ent­stand, und das alljährliche Volksliedfest in der Hafenstadt Newport wurde ihr Kommunikationszentrum. Hier sang die Baez zum erstenmal vor einem tausend­köpfigen Publikum, und hier wurde Bob Dylan zum erstenmal ausgebuht, als er — nach Meinung seiner Anhänger — den Folksong verriet und zum Folkrock überlief.
Zwei Themen waren es vor allem, die in den neuen Liedern der Jungen Protestierer eine Rolle spielten: der Kampf der amerikanischen Neger um ihre politisch-gesell­schaftliche Gleichberechtigung (civil rights movement) und der „schmutzige Krieg in Vietnam". An dieser Stelle verband sich die musikalische Aktivität der Protest­sänger mit der politischen Aktivität der amerikanischen „neuen Linken", ihrem Versuch, eine Alternative zum etablierten Zweiparteien-System auf die Beine zu stellen. Wo immer in den letzten fünf Jahren in Amerika öffentlich protestiert wurde, wurde auch öffentlich gesungen. Bei den Bus-Fahrten der Neger in den inte­grationsfeindlichen Süden (freedom riders), bei den Protestmärschen nach Montgomery, Alabama (freedom marches), bei den Sitzstreiks der Studenten gegen die Kriegspolitik Präsident Johnsons (sit-ins), bei den Protestvorlesungen amerika­nischer Professoren mit dem Ziel des Truppenrückzugs aus Vietnam (teach-ins) und bei dem Versuch, durch Sitzstreiks vor dem Umschlaghafen der amerikani­schen Armee in Port Chicago bei San Francisco das Verladen von Napalm-Bomben zu unterbinden.
Einige dieser neuen Lieder sind inzwischen weltbekannte Schlager geworden, wie Pete Seegers „Where have all the flowers gone", Bob Dylans „How many times", Melvina Reynolds „What have they done to the rain". Die härteren Protestlieder aber, und sie zählen nach hunderten, haben eine geringere Chance, in Europa populär zu werden. Keine amerikanische Rundfunkstation sendet Tom Paxtons „We heip save Vietnam from Vietnamese", und Phil Ochs („We are the cops of the worid") ist aus den gleichen Gründen in Europa fast unbekannt.

Informeller Start: man fing einfach an

So, wie in diesem Frühjahr ein paar spätere Ca-ira-Clubgründer mit Erinnerungen an das norwegische Sommerlager-Domizil durch Berlin liefen, so liefen andere mit einem Stapel amerikanischer Schallplatten durch Berliner Jugendheime und erzählten ihren jugendlichen Zuhörern mit musikalischen Beispielen die Geschichte der politischen Wiederbelebung des amerikanischen Volksliedes. Dabei entdeckten sie, daß es offensichtlich eine Menge junger Berliner gab, die ihren Bob Dylan auf dem Plattenteller und eine Gitarre im Schrank liegen hatten. Und sie entdeckten in Berliner Jugendheimen einige aktive Folklore-Gruppen, die auf eine eigene Plattform für ihre musikalisch-politische Aktivität warteten.
Diese drei Gruppierungen: die Leute aus dem Norwegen-Camp, die Amerika-Fahrer und die Berliner Folkloristen beschlossen, sich gegenseitig — und dazu einige Bekannte — zu einer privaten „Hootenanny" (das ist so etwas wie das folkloristische Gegenstück zur „jam session") einzuladen. Es kamen 70 Gäste. Sie baten einen Sänger, ein paar Lieder zu singen. Es sangen 30. Damit war das Eis gebrochen. Ermutigt durch einen verständnisvollen Jugend-Stadtrat, der seine gerade leerstehende Baracke mietfrei zur Verfügung stellte, zogen die drei infor­mellen Gruppierungen am l. April 1966 in die Münstersche Straße. Alle waren zwischen 20 und 35 Jahre alt und von Beruf Jugendpfleger, Facharbeiter, Studenten, Journalisten, Bibliothekarin, Buchhalterin und Hochschullehrer.
Mit den ersten 100 Mark, die sie zusammenlegten, kauften sie Farbe. Mit den 1000 Mark, die sie von ihren Bekannten auf Grund eines Bettelbriefes bekamen — später folgten noch einmal 1000 Mark — kauften sie wieder Farbe, Lampenschirme, Gläser, Elektromaterial und Material für Selbstbautische. In den Möbellagern der Berliner Wohlfahrtsämter fanden sie aus dem Nachlaß verstorbener Wohlfahrtsempfänger wunderschöne altmodische Stühle, Jugendstilsofas und Gipsbüsten. Der Leiter eines Gewerkschaftsjugendzentrums stiftete eine riesige Bar, die einer amerikanischen Filmfirma einen Tag lang als Dekorationsstück für eine Berlin-Schnulze gedient hatte. Alte Spiegel tauchten auf, Geschirr und ein Grammophon.
Und junge Leute, die mithelfen wollten. Obwohl es in keiner Zeitung gestanden haue, obwohl keine Abendschau davon berichtet hatte, kamen jeden Nachmittag neue, unbekannte Mitarbeiter, sagten „Guten Tag" oder auch gar nichts und sahen sich nach Pinsel, Säge und Arbeit um. Nach 14 Tagen klappte es so gut, daß aus­führliche, an einen überdimensionalen Gründerzeit-Spiegel geklebte Arbeitsanleitungen genügten, um 30 freiwillige Helfer zu geordneter Renovierungsarbeit anzu­regen. Man kannte sich zu Anfang kaum. Man wußte nur: „In der Münsterschen Straße sollen sie einen Folklore-Schuppen aufziehen". Das genügte offenbar.
Nach ziemlich genau vier Wochen war das stilvolle — manche sagen: zu stil­volle — Folklore-Lokal mit einem nur sehr geringen Anteil öffentlicher Mittel aufgezogen. Der durch das Versetzen einer Wand vergrößerte Hauptraum faßt 100 Personen in Sitzgruppen zu zweit, viert und sechst unter 15-Watt-Korbhänge­lampen mit schmalen Tischen für Aschenbecher, Coca, Bier oder Wein und schwarz­weiß lackierten Altbaustühlen aus der Großmutterzeit, dazu eine geräumige Bar für etwa 20 Gäste, ein Podium mit Klavier, Übertragungsanlage und Schein­werfern in alten Konservenbüchsen.
Der Vorraum wird von alten Spiegeln und einem Schwarzen Brett beherrscht, auf dem man sich über politische, literarische und musikalische Veranstaltungen infor­mieren kann, aber auch darüber, wer eine Gitarre kaufen möchte und welche Folkloregruppe noch eine zweite Stimme braucht — oder ein Mädchen.
Vom Vorraum führen fünf Türen in eine winzige Teeküche, ein ebenso winziges Büro, einen Vorratsraum, einen workshop, wohin man sich zum Reden oder Singen zurückziehen kann, wenn es im Hauptraum zu turbulent zugeht, und einen Übungsraum für die Karate-Gruppe, die noch aus alten Jugendheimzeiten Haus­recht besitzt.
Anfang Mai wurde der „Folklore-Schuppen" mit einer Party aller Mitarbeiter eröffnet. Diese Party verschaffte einen ersten Überblick, wer nun tatsächlich mit­gearbeitet hatte. Es erschienen 90 junge Leute zum überdimensionalen Kalten Büffet — dazu noch viele Neue, die auf einen anderen Tag vertröstet werden mußten. Damit war der Club zum Leben erwacht. Und er hatte auch einen Namen bekommen — in einer Kampf abstimmung des „inneren Kreises" war mit Mehrheit für „Ca ira" entschieden worden: weil das mal nicht englisch, sondern französisch sei und weil das eines der ersten bedeutenden politischen Protestlieder gewesen sei, ein Gassenhauer, der im Jahre 1790 mit neuem Text („Die Aristokraten an die Laterne") vom Schlager zur Nationalhymne der l. Französischen Republik avanciert sei.
Wenn man von „Kampfabstimmung des inneren Kreises" spricht, dann muß man natürlich etwas über die nicht sehr einfach durchschaubare personelle Struktur des Clubs sagen.
Zu Beginn der Renovierungsarbeiten fühlten sich die ursprünglichen Aktivisten verantwortlich für den Club. Im Laufe der Arbeiten stießen etwa zehn Jugendliche dazu, die mit solcher Regelmäßigkeit spezielle Verantwortung übernahmen, daß sie bei der Eröffnung des Clubs einfach dazu gehörten. In den ersten Monaten der Clubarbeit kamen noch einmal ungefähr zehn Jugendliche dazu, die regelmäßig sangen, regelmäßig hinter der Bar standen oder sich auf andere Weise unentbehrlich machten. Diese ständig größer werdende Gruppe von Aktiven saß in wechselnder Zusammensetzung einmal in der Woche um eine umfangreiche Tagesordnung und entschied organisatorische, inhaltliche und finanzielle Fragen.
Die organisatorische Struktur des Clubs war relativ einfach. Der „innere Kreis" wählte zwei gleichberechtigte Vorsitzende und eine Kassenführerin und verpflich­tete sich dem Jugendamt gegenüber zu strikter Einhaltung der üblichen Jugend­pflege- und Jugendschutzbestimmungen. Getränke bezieht man über den Berliner Jugendclub e.V., der die entsprechende Lizenz besitzt, der Landesrechnungshof
überprüft das Geschäftsgebaren, und das „Bedienungspersonal" unterzieht sich der notwendigen gesundheitsamtlichen Routineuntersuchung.
Die finanziellen Probleme des Clubs waren bisher ebenfalls recht einfach. Mit dem privaten Spendenkapital von 2000 DM konnte man zunächst an die Arbeit gehen. Die vielen freiwilligen Mitarbeiter, vor allem die jungen Elektriker, Polste­rer, Installateure, Tischler und Maler verbilligten die Renovierung enorm. Gar­dinen wurden selbst genäht, Lampen preiswert angefertigt, Stühle eigenhändig bezogen. Die jeweilige Abendeinnahme (durchschnittlich zwischen 100 und 200 DM bei mäßigen Preisen und freiem Eintritt) wird regelmäßig auf das Club-Konto überwiesen, und trotz Sommerflaute konnten in den ersten vier Monaten Übertragungsanlage, Heißwasserspeicher und Geschirr aus eigenen Mitteln ange­schafft werden. Das war nur durch einen strikten Grundsatz möglich, der bisher nicht durchbrochen wurde: Kein Mitarbeiter — ganz gleich, ob hinter der Bar oder auf dem Podium — nimmt für seine Arbeitsleistung vom Club Geld. Nach langer Diskussion wurde dieser Grundsatz wenigstens so weit modifiziert, daß Mit­arbeitern, deren Taschengeld nicht für Fahrgeld oder Taxi reicht, die reinen Fahrt­kosten ersetzt werden.

Informelles Programm: zwischen Improvisation und Planung

Von Anfang an war der Club an jedem Donnerstag, Freitag und Sonnabend von 18.00 bis 24.00 Uhr geöffnet. Jeweils ein oder zwei Mitarbeiter bereiteten für die Zeit zwischen 20.30 und 21.30 Uhr eine Art Programm vor: donnerstags etwas Literarisches, freitags internationale Folklore und sonnabends Interviews mit Zeit­genossen („Who ist who") oder Diskussionen („What ist what"). „Eine Art Pro­gramm" ist ein weitgefaßter Begriff. Programm im Sinne des Clubs kann darin bestehen, daß der Programmgestalter des jeweiligen Abends gegen 20.15 Uhr ans Mikro tritt, die Gäste begrüßt und einen ihm bekannten anwesenden Banjospieler bittet, doch mal eben nach oben zu kommen. Programm kann aber auch darin bestehen, daß der Programmgestalter mit einigen Bekannten eine vom ersten bis zum letzten Satz vorgeplante szenische Lesung auf die Beine stellt (etwa die Trujillo-Reportage von H. Magnus Enzensberger, „Junge Literatur in der DDR" oder „Gruselgeschichten" von Poe, Capote, Kafka oder „Dichter und Vagabun­den" mit Villon, Rimbaud, Gorki und Kerouac).
Der Freitag ist gewöhnlich, vom Programm her gesehen, der informellste Tag. Alle Versuche, internationale Folklore unter bestimmte Themen zu stellen, schei­terten, weil immer wieder zahlreiche bekannte und unbekannte Sängerinnen und Sänger darauf warten, das Mikrophon benutzen zu können. Im letzten Monat allein beteiligten sich etwa 40 Folkloristen an der freitaglichen „Hootenanny", die meist in eine Art folkloristische „jam session" einmündet mit Beteiligung aller anwesenden Sängerinnen und Sänger und des animierten Publikums. Obwohl der topical folksong besonders geschätzt wird, sind immer auch traditionelle Volks­lieder aus aller Welt vertreten, besonders natürlich aus England, Amerika, Irland, Schottland, Israel, Rußland und vom Balkan. Von Zeit zu Zeit finden sogenannte „Protestivals" statt, auf denen die Sänger politische Eigenproduktionen vorstellen.
Bevorzugte Themen: Vietnamkrieg, Bildungsnotstand, Starfighter, Wohlstandsbürger, Generationenkonflikt.
Der Sonnabend ist thematisch am offensten. Das Wochenendprogramm reicht vom Intensivinterview eines Volkssängers, eines Politikers oder eines Journalisten über eine Podiumsdiskussion über Bildungswerbung bis zu Fragen der Geschlechtserziehung.
Nachdem das Programm mit dieser Grundstruktur einen Monat lang gelaufen und dank eines ungewöhnlich rührigen clubeigenen Pressechefs von der Berliner Publizistik wohlwollend und ausführlich beachtet worden war, wurde es auf Initiative des Publikums erweitert. Ein Student stellte grafische Arbeiten aus, ein Oberschüler hängte surrealistische Ölbilder in die Clubräume. Unbekannte Jung-Autoren lasen aus eigenen Werken, spanische Republikaner sangen Freiheitslieder, katalanische Volkstänzer tanzten auf dem sandigen Boden vor der Baracke. Studenten organisierten kleine workshops, um den Autoren deutscher Protestlieder zu helfen, ihre Texte zielgenauer zu fassen. Darüber hinaus fanden neben manchen heimischen auch ausländische Künstler den Weg in den Club, so zum Beispiel die Akteure der Prager „Laterna Magica", des „Living Theatre's" und andere mehr. Eine eigene Folklore-Zeitschrift (PINX) erscheint in diesem Monat mit vierter rotaprint-gedruckter Nummer. Die club-eigene Ca-ira-Presse druckt auf Anfrage deutsche und amerikanische Lieder-Texte.
Obwohl sich also der Personenkreis der Programmgestalter laufend verändert und erweitert, wurden einige Grundsätze der Programmgestaltung bisher ziemlich genau eingehalten:
(l) Das Abendprogramm sollte auf die Zeit zwischen 20.30 und 21.30 Uhr beschränkt werden. (2) Das Programm sollte so offen gehalten werden, daß die an­wesenden Gäste zur Mitarbeit ermutigt werden. (3) Jedes Programm sollte einen Bezug zu aktuellen gesellschaftlichen Fragen haben. (4) Das Programm sollte vor allem auf die Altersgruppe der unter 20jährigen und die Gruppen der Jungarbeiter, Angestellten und Schüler zugeschnitten werden.
Nach jedem „Programm" ist die Bühne frei für Gäste. Reibungslos — aber oftmals durch Zwischenrufe und Diskussionen unterbrochen — wechseln Gedichte, Volkslieder, Protestsongs und kurze Reden. Je später es wird, um so mehr lockert sich die Atmosphäre, und kurz vor Mitternacht sitzen Sänger, Sprecher und Gäste dichtgedrängt auf dem Fußboden um das Podium, und es fällt schwer, eine stabile Grenze zwischen Akteuren und Zuhörern zu ziehen.
Natürlich ist nicht ein Abend wie der andere. Manchmal wirkt das Publikum recht zähflüssig und matt, manchmal sind die auf der Bühne Agierenden nicht in der rechten Stimmung, manchmal ist das Programm zu lang angelegt. Diskussionen zwischen Bühne und Publikum kommen nur dann auf, wenn das Thema wirklich jedermann betrifft, wie etwa ein Abend über Sinn und Unsinn des 17. Juni als Nationalfeiertag oder eine Podiumsdiskussion „Protest-Song — nötig oder nicht", von der ein prominentes Club-Mitglied meinte: „Unsere Nachwuchssänger machen seitdem bessere Lieder; außerdem war die Beteiligung durch die Zuhörer enorm."
Natürlich ist nicht jedes Abendprogramm ein Erfolg. Über ein happening zum „Tag des Zorns" (dem Jahrestag der französischen Revolution) schrieb ein Club-Mitglied in sein Tagebuch: „Es war Käse. Alle guten Gags sind im Gebrüll sehr lustiger Leute, die etwas falsch verstanden hatten, untergegangen. Da half nicht mal Klavierverbrennen oder Stricken auf der Bühne. Schade. Es wurde richtig Sylvester."
Ein ernsthaftes und ungelöstes Problem sind die — jedem Jugendheimleiter vertrauten — „Entwendungen" beweglicher Gegenstände. Einmal war es ein Mikrophon, einmal waren es Langspielplatten, ein drittes Mal: eine wohlassortierte Zusammenstellung von Bier, Limonade, Martini, Wein, Erdnüssen und Schokolade. Nach solchen Schicksalsschlägen laufen die Mitarbeiter recht niedergedrückt durch die Baracke, aber außer sozialpsychologischen Erklärungsversuchen ist bisher nie­mandem eine Lösung eingefallen.
Ein weiteres ungelöstes Problem ist die Frage des Mitglieder-Status. Im Augenblick hat der Club 24 Mitglieder. Das sind neben den drei „ursprünglichen Gründer-Gruppierungen" und dem Wilmersdorfer Jugend-Stadtrat die jungen Leute, die sich bei der Organisation und beim Programmgestalten unentbehrlich gemacht haben. Viele Gäste aus dem Stammpublikum scheinen aber den brennenden Wunsch zu haben, ebenfalls Club-Mitglied zu werden. Der „innere Kreis" ist damit grundsätzlich einverstanden. Aber wer soll die rote Mitgliedskarte be­kommen? Jeder, der dazu Lust hat? Jeder, der einen monatlichen Mitgliedsbeitrag bezahlt oder einen Teil seiner Arbeitskraft in den Dienst des Clubs stellt?
Diese Streitfrage ist im Augenblick noch nicht entschieden. Aber die eigengesetz-liche Dynamik der Entwicklung von Ca ira hat inzwischen Tatsachen geschaffen, die bei jeder künftigen Entscheidung berücksichtigt werden müssen. Diese Tat­sachen hängen damit zusammen, daß während des Hochsommers ein Teil der Gründungsmitglieder und der Stamm-Sänger nicht in Berlin war. Das entstehende Vakuum wurde von neuen Sängern, Sprechern, Organisatoren und Programmgestaltern geräuschlos und durchaus im Sinne der ungeschriebenen Club-Idee aus­gefüllt. Der Kommentar eines aktiven Mitgliedes: „Viel von dem konnte ver­wirklicht werden, was wir als unser ungeschriebenes Manifest bezeichnen könnten. Dutzende von Jugendlichen helfen bei den Interviews, an der Bar und beim Pro­gramm. ... Es macht von Woche zu Woche mehr Spaß. Ca ira ist augenblicklich wirklich ein Club von Jugendlichen für Jugendliche. Morgen ist große Sitzung:
viele neue Leute wollen sich bewerben."

Informelle Struktur: wie lange kann man sie halten?

Wenn Journalisten in den Club kommen und fragen, „wer hier nun eigentlich ver­antwortlich ist", dann sehen sich die Mitarbeiter erstaunt an. Sie wissen es nicht. Es scheint keine oder vielleicht noch keine allen bekannte Hierarchie der Verantwortlichkeit zu geben. Anders gesagt: diese Hierarchie verschiebt sich von Monat zu Monat und von Aufgabenbereich zu Aufgabenbereich. Jeder macht, was ihm Spaß macht, und im Augenblick scheint es noch genügend Aufgaben zu geben, die Spaß machen, und genügend potentielle Mitarbeiter, denen sie Spaß machen.
Auf die Dauer zeigt sich, daß die ad-hoc-Initiative dieser Jugendlichen der Koordinierung einiger weniger bedarf. Durch den offenkundigen, möglicherweise notwendigen permanenten Einsatz einiger weniger beginnt sich die informelle Struk­tur des Clubs zu verfestigen, und es entstehen nicht vorhergesehene, die spontane Aktivität manchmal hemmende Autoritätsbeziehungen.
Der Club hat an den drei Abenden einer Woche zusammen ungefähr 500 Gäste. Ein Teil von ihnen fühlt sich an einem nicht genau zu definierenden Punkt zusammengehörend. Dabei denken die Stammbesucher weder gleichgerichtet noch tragen sie die gleiche Kleidung noch mögen sie die gleichen Lieder. Aber sie haben ein informelles Informationssystem entwickelt. Keiner weiß, wie sie das machen, aber wenn Joan Baez nach Berlin kommt, und niemand sollte es eigentlich wissen können, weil es in keiner Zeitung gestanden hat und nicht an die Litfaßsäulen geklebt wurde, dann wissen sie Bescheid. Wenn an der Freien Universität eine studentische Protestversammlung stattfindet, dann scheinen ihre Telefondrähte zu glühen. Wenn einer dem anderen sagt: „Am soundsovielten ist dort und dort das und das los", dann sind sie an diesem Tage und an diesem Orte anwesend und sehen sich gegenseitig wissend an.
Das scheint man auch außerhalb des Clubs zu merken. Wenn die evangelischen Studenten eine Veranstaltung mit Protestsängern planen, dann wenden sie sich nicht an einzelne Sänger, sondern an den Club. Und im Club wird dann abge­sprochen, wer geht und was er singt. Die Frage ist, wie lange der Club diese ver­gleichsweise offene, informelle Struktur durchhalten kann. Mit dem ersten Erfolg kommen neue Aufgaben: ein Berliner Sender plant ein großes Jamboree, das Landesjugendamt eine ebenso große Hootenanny. Schallplattenfirmen interessie­ren sich für Live-Mitschnitte. Kommerzielle Fragen tauchen auf. Die Besucherzahl wächst nach der Sommerpause ständig. Die liebe alte Baracke platzt aus den Nähten. Viele Schüler müssen im neuen Schuljahr vorsichtiger mit ihrer Freizeit umgehen. Jeder dieser Sätze enthält eine Fülle von Problemen für den Club und seine noch immer informelle Struktur. Aber, wie auch immer sie bewältigt werden:
wenn die Gründung von Ca ira ein interessantes Experiment war, so wird seine Fortführung nicht minder aufschlußreiche Erfahrungen liefern.