Der folgende
Beitrag der Heidelberger Genossen, der die ROTE PUNKT - Aktion beschreibt und ihre
strategische Funktion analysiert, ist vor dem Ausbruch der Streikwelle geschrieben worden.
Wir meinen, daß die in der Produktionssphäre ausgebrochenen Kämpfe die
Auseinandersetzung über den Stellenwert der Straßenbahnaktionen in der neu einsetzenden
Periode von Klassenkämpfen nicht überflüssig machen.DIE STRASSENBAHNAKTIONEN NICHT
ALS ANGRIFF AUF DEN KONSUMSEKTOR MISSVERSTEHEN !
Der Erfolg der Straßenbahnblockaden in verschiedenen Städten legt die Gefahr nahe,
nun endlich den allgemeinen Angriff auf die Konsumsphäre, die endgültige Zerschlagung
des Konsumterrors einzuleiten. Einer solchen Konsequenz liegt eine Fehleinschätzung
zugrunde sowohl der Straßenbahnaktionen als auch der Möglichkeiten, den Klassenkampf im
Konsumsektor auszutragen oder auch bloß einzuleiten. Diese Interpretation der
Straßenbahnblockaden unterdrückt gerade die klassenspezifischen Momente der Aktionen und
verschüttet damit die Möglichkeiten einer sozialistischen Mobilisierungspolitik, die in
ihr enthalten sind. Sie geht einer konkreten Analyse der Strassenbahnaktionen aus dem Weg.
Entweder hält sie die Selbstorganisation des Verkehrs schon für sozialistisch und für
den entscheidenden Inhalt der Straßenbahnproteste (Genosse Brückner in
"konkret" vom 14. Juli 1969), oder sie nimmt den relativen Erfolg der
Fahrpreisreduktion zum Anlaß, einen "roten Raster" möglicher Boykottaktionen
im Konsumsektor zu entwickeln, die durch bloße Aneinanderreihung schon eine Strategie
ergeben sollen. (Heinz Brandt in ' express international' vom 11. Juli 1969): Der Artikel
in der Roten Presse Korrespondenz (27. Juni 1969) bleibt in dieser Hinsicht unbestimmt,
wenn auch seine Terminologie zunächst gegen eine solche Fehleinschätzung zu sprechen
scheint.
Die schlichte Übernahme eines Zitats aus dem Handelsblatt als Beleg dafür, wohin
"konkrete" Phantasie fuhren kann. nämlich zur Besetzung von Bäckerläden,
falls die Brötchen teurer werden (wobei wir dann freilich analog zum Rote-Punkte-Verkehr
auch das Brötchenbacken selbst in die Hand nehmen müssten), lässt vermuten, dass die
Aktionsphantasie hier eher ins Beliebige ausufert, statt durch genaue Analyse der
Strassenbahnaktionen sich auf die tatsächliche Perspektive des Klassenkampfes
zuzuspitzen.
Sowohl die Interpretation des Genossen Brückner als auch die Heinz Brandts
abstrahieren von der Auseinandersetzung mit der Staatsmacht, die die Strassenbahnaktionen
kennzeichnete. Aber gerade die Betonung dieses Aspektes läßt es allererst zu, den
Stellenwert der Strassenbahnblockade in einer längerfristigen sozialistischen Strategie
zu bestimmen: Dann erst stellt sich für die Massen die Frage, wem dieser Staat dient und
wer ihn, wo und wie wirksam bekämpfen kann. Zudem wird nur so der reformistischen
Forderung nach Verstaatlichung der Nahverkehrsbetriebe der Boden entzogen, weil klar wird,
dass der Staat, der die Aktionen mit seiner Polizei unterdrücken wollte, niemals die
Interessen derer vertreten kann, deren Interessen die Aktionen offensichtlich dienten.
Aktionen wie die Strassenbahnblockaden sind nicht an sich revolutionär oder
reformistisch: lediglich die agitatorischen und strategischen Konsequenzen, die wir aus
ihnen ziehen, lassen eine solche Beurteilung zu. Weder darf uns die Tatsache, dass der
Staat in den Strassenbahnaktionen schnell einlenkte, von seiner Funktion im Klassenkampf
ablenken, noch darf uns ihr Erfolg zu einer Überschätzung des Konsumsektors als
Kampffeld verführan; "Die Quelle eines jeden Opportunismus liegt gerade darin, dass
er von den Wirkungen und nicht von den Ursachen, von den Teilen und nicht vom Ganzen, von
den Symptomen und nicht von der Sache selbst ausgeht. " dass er im Einzelinteresse
und seinem Erkämpfen nicht ein Erziehungsmittel zum Endkampf, (...) sondern etwas an und
für sich Wertvolles, oder wenigstens an und für sich dem Ziele Entgegenführendes
erblickt, dass er - mit einem Wort - den tatsächlichen psychologischen
Bewußtseinszustand der Proletarier mit dem Klassenbewusstsein des Proletariats
verwechselt. " (Lukacs) In den Strassenbahnaktionen und ihrer agitatorischen
Verwertung kommt es darauf an, den tatsächlichen psychelogischen Bewußtseinsstand der
Proletarier, der auf die Konsumsphäre fixiert ist, in Klassenbewusstsein zu
transformieren, das den Kampf gegen das Kapital auch im Betrieb aufnimmt. Diese
Transformation des Bewußtseins setzt eine Entlarvung und wirksame Bekämpfung des Staates
als Dienstleistungsbetrieb für das Kapital voraus.
Die Bedingungen der Strassenbahnblockaden unterscheiden sich grundsätzlich von anderen
Aktionen in der Konsumsphäre. Die Fahrpreiserhöhung der Straßenbahn trifft die
Individuen nicht vereinzelt zu verschiedener Zeit und an verschiedenem Ort; schon deshalb
ist der Widerstand leichter organisierbar. Dieser Widerstand muß notwendig auf der
Strasse stattfinden und ist als Widerstand auf der Strasse viel leichter legitimierbar als
etwa Protestaktionen gegen die Erhöhung der Butterpreise, und zwar nicht nur weil die
Fahrpreiserhöhungen von staatlichen Instanzen abhängig sind, sondern auch weil der
ökonomische Zweck der Aktionen, die Strassenbahngesellschaften durch finanzielle
Nachteile zum Einlenken zu zwingen, viel leichter mit dem politischen Kampf auf der
Strasse zu vermitteln ist, der diese Nachteile für die Strassenbahngesellschaften mit
sich bringt. Sind aber die ökonomischen Kam pfmittel (wirksamer Boykott) und der
politische Protest (Strassendemonstration) aufeinander angewiesen und voneinander
abhängig, so sind auch die unmittelbaren Kampfziele (Fahrpreisreduktion) viel leichter
mit dem Klassenkampf im Betrieb zu vermitteln als bei anderen Aktionen in der
Konsumsphäre, weil dem Strassenbahnverkehr schlechterdings nichts Luxuriöses anhängt
und jedem klar ist, dass er die Strassenbahn bloss deshalb benutzt, weil er zur Arbeit
muss und weil er ohne Arbeit nicht leben kann. Deshalb ist sehr leicht klar zu machen,
dass für die Strassenbahn die zu zahlen haben, die von der Arbeit profitieren, die
Kapitalisten. und dass die permanenten verschleierten Lohnkosten, die solche
Fahrpreiserhöhungen bedeuten, nur mit der Lohnarbeit selbst verschwinden.
Wenn aber die Strassenbahnaktionen relativ leicht mit dem Grundwiderspruch von
Lohnarbeit und Kapital zu vermitteln sind und der politische Kampf auf der Strasse auch
als ökonomisches Kampfmittel leicht auszuweisen ist, so enthalten sie doch andere weniger
eindeutige Elemente: den zunächst unbestimmten Ärger über die allgemeine
Preissteigerung und die Möglichkeit, die ganze Auseinandersetzung auf eine finanz-und
steuertechnische Streiterei zwischen Gemeinden, Ländern und Bund zurückzuschrauben.
Diese entpolitisierenden Blemente werden noch dadurch verstärkt, dass die
Auseinandersetzung um die Fahrpreise beim derzeitigen Mobilisierungsgrad der Massen aktiv
nur von einer Minderheit getragen werden konnten, die alles darauf anlegen musste, den
kapitalistischen Alltag in der Produktionssphäre aufrecht zu erhalten, d. h. dafür zu
sorgen, dass die arbeitenden Massen pünktlich zur Steckuhr kamen. Dieser Widerspruch
zwischen antikapitalistischer Argu-mentation gegen die Fahrpreiserhöhung und auf den
kapttalistischen Alltag ausgerichteten Rote-Punkte-Verkehr, konnte in der Agitation
nur artukuliert werden, indem wir zeigten, das9 die "Lohn-Preis-Spirale" bloss
mit der kapitalistischen Organisation der Produktion abgescharrt werden kann und auch in
der Auseinandersetzung mit der Staatsgewalt nicht aufgehoben wird, die diese Organisation
schon schützt, wenn sie den an sich harmlosen Protest gegen die Fahrpreiserhöhung
vergeblich zu zerschlagen sucht. Der zwielichtige Charakter der Aktion durfte also gerade
nicht vertuscht werden, sondern es musste festgehalten werden, dass die
Strassenbahnaktionen, da antikapitalistisch motiviert, folgerichtig durch Streiks auch in
die Produktionsyhäre getragen werden müssten, um das Ziel " Zahlt die Strassenbahn
aus Unternehmerprofiten" zu erreichen.
Diese Parole, wie auch die Forderung nach "Freier Fahrt zum Arbeitsplatz"
hatten wir aufgestellt, um den zwiespältigen Charakter der Strassenbahnaktionen
agitatorisch hervorzuheben und aufzuzeigen, wie er praktisch, nämlich durch Verbindung
der Blockade mit Streiks in den Betrieben und durch die Funktiona-lisierung des Rote-P
unkte-Verkehrs für die Streikenden, überwunden werden könnte. Wir versuchten deshalb
solche Fragen wie Ausbildungsfürderungsgesetz, analytische Arbeitsplatzbewertung und
Aufwertung der DM in die publizistische Aufklärung aufzunehmen, um die
Strassenbahnaktionen nicht zu isolieren.
VERLAUF DER AKTIONEN
Als im April die Absicht der Fahrpreiserhöhung veröffentlicht worden war, begann das
Sozialreferat des ASTA mit der Verteilung der Roten Punkte. Mitte Mai beschloss das
Studentenparlament, die für den l. Juni geplante Fahrpreiserhöhung mit einer flexiblen
Aktionsstrategie, die vom kollektiven Zahlungsboykott bis zur generellen Blockade reichen
sollte, zu bekämpfen. Dieser Beschluss wurde in der Lokalpresse veröffentlicht und auf
Flugblättern verbreitet und zwang die Herrschaftsseite zu ernsten Manövern, obwohl sie
offiziell keine Kenntnis von unserer Aktionsankündigung nahm: am selben Tag, als der
Heidelberger Gemeinderat die Fahrpreiserhöhung billigte, verweigerte das
Regierungspräsidium seine Zustimmung, was den ursprünglichen Zeitplan der Heidelberger
Strassenbahn Gesellschaft durcheinanderbrachte. Die Fahrpreiserhöhung konnte nun nicht
wie ursprünglich vorgesehen am l. Juni eingeführt werden. Das Regierungspräsidium
begründete seinen spektakulären Schritt damit, dass vor der endgültigen Entscheidung
weitere Gutachten und Beratungen nötig seien. Da unsere Aktionsankündigung allgemein
bekannt war, konnte das Manövrieren des Regierungspräsidiums und sein Gegensatz zur
Stadtbürokratie und HSB von den Massen leicht interpretiert werden, so dass der
SPD-Oberbürgermeister Zundel nicht zu Unrecht befürchtete, der Entschluss des
Regierungspräsidiums könnte als unser Erfolg "missverstanden" werden.
Für uns ergab sich durch diese Verschiebung die Möglichkeit, in einer schon
aufmerksam gewordenen Öffentlichkeit eine grosse Flugblattkampagne vor den Betrieben und
in der Stadt einzuleiten. Als der neue Termin der Fahlpreiserhöhung (15. Juni) bekannt
gegeben wurde, riefen wir ein teach-in ein, auf dem vor allem noch einmal die
Argumentation und die Taktik diskutiert wurden, um den einzelnen Teilnehmern an der Aktion
eine selbständige Agitation zu erleichtern. Da anzunehmen war, daß die Herrschaftsseite
inzwischen alle Möglichkeiten durchgespielt hatte, um eine Fahrpreiserhöhung vielleicht
zu verhindern oder doch für längere Zeit zu verschieben, konnten wir kaum noch auf einen
unmittelbaren Erfolg der Aktion rechnen. Wir neigten deshalb dazu, den Erfolg lediglich in
der Aufklärung und nicht auch in der Verhinderung der Fahrpreiserhöhung zu sehen.
Da wir mit sorgfältig vorbereiteten Polizeieinsätzen zu rechnen hatten, kam es darauf
an, die Polizei selbst instrumental einzusetzen, weil sie durch ihre Unbeweglichkeit viel
besser geeignet ist, den Verkehr lahmzulegen als wir.
Nachdem wir zwei Tage lang Flugblätter in den S tr assenbahnen verteilt und verah ied
entlich die Zahlung boykottiert hatten ' (eine Betriebslehrlingsgruppe hatte schon am 13.
nach Arbeitsschluß damit begonnen) blockierten wir am Sonntag, dem 15. Juni, zweimal für
kürzere Zeit exemplarisch den Strassenbahnverkehr, bemalten die Strassenbahmen mit
Parolen und agitierten mit Sprechchören. Am Abend veröffentlichten die HSB und OB zwei
Stellungnahmen, die klar bewiesen, dass sie die Fahrpreiserhöhung notfalls mit
Polizeigewalt durchsetzen wollten. Beide versuchten auf vermuteten Ressentiments gegen den
SDS herumzureiten und warnten, vor dem Chaos, das wir angeblich wollten, und dem sie im
Interesse der Bevölkerung zu steuern gedächten. Doch offensichtlich war die Legitimation
für einen Polizeieinsatz zu diesem Zeitpunkt schon so angeschlagen, das am Montag, obwohl
wir seit 7 Uhr den Verkehr blockierten, kein Polizeieinsatz mehr gewagt werden konnte,
wenn auch starke Kräfte im Stadtzentrum zusammengezogen waren und ein Polizeihubschrauber
in der Luft war, um den Einsatz zu leiten. Als auch der Berufsverkehr, den die Arbeiter
z.T. selbst organisierten, nicht zu dem erwünschten Chaos führte, beschränkte sich die
Polizei darauf, eine südafrikanische Tanzveranstaltung zu schützen. Sicher war der
Stadtbürokratie nach den Erfahrungen in Hannover , auf die wir in der Agitation immer
wieder hinwiesen, die ursprünglich geplante Taktik eines massiven Polizeieinsatzes bei
gleichzeitiger Hetze gegen die Betroffenen zunächst suspekt geworden. Am Dienstag, dem
17. Juni, ließ sich die Polizei gar nicht sehen. Aber der OB fand nun, nachdem auch der
Innenminister heimlich in der Stadt und im Polizeipräsidium gewesen war und ein
"Vermittlungsversuch" zweier Jusos (wir sollten die Blockade aufheben)
gescheitert war, so starke Worte, dass wir für Mittwoch früh sicher mit einem
Polizeieinsatz rechnen konnten. Ab fünf Uhr glich die Strasse einer Polizeifestung.
Starke Polizeikräfte an jeder Kreuzung und Haltestelle sollten eine weitere Blockade
präventiv verhindern. Wir brachten die Polizei zunächst durch die Blockade einzelner
Bahnen in Bewegung und blockierten dann zusammen mit den Schülern wieder das Zentrum. Es
kam nun zu stundenlangem Gerangel mit der Polizei. Die Polizeiführung wagte jedoch keinen
Knüppeleinsatz, der die Aktionen in der sympathisierenden Stadt lediglich dezentralisiert
und die Stadtbürokratie wahrscheinlich in grosse Schwierigkeiten gebracht hätte. Die
jungen Bereitschaftspolizisten waren sehr schnell demoralisiert, mussten ununterbrochen
ausgewechselt und bald insgesamt in Bereitschaftstellung abgezogen werden. Damit war der
gewaltsame Durchsetzungsversuch gescheitert und die Stadtbürokratie musste etwas
unternehmen, wenn sie sich nicht lächerlich machen wollte. A m Abend wurde der ohnehin
lahmgelegte HSB-Betrieb ganz eingestellt. In der Nacht wurde die Fahrpreiserhöhung
zurückgenommen. Am Donnerstagabend wurde auf einer Massenversammlung der Abbruch der A
ktionen beschlossen. Auf diesem teach'in, auf dem auch die DKP auftrat, wurde noch einmal
eine strategische Bestimmung der Aktion versucht. Die Mehrheit stimmte deshalb für
Abbruch, weil es keinen Sinn hatte, nach dem eindeutigen politischen Erfolg um weitere
Pfennige zu feilschen, da klar war, dass die Aktion keine neue Qualität bekommen könnte,
nachdem die HSB schon angekündigt hatte, den Verkehr bei weiteren Aktionen nicht wieder
aufzunehmen. Ohne Blockade aber wäre der Rote-Punkte-Verkehr zum blossen Dienst
leistungsbetrieb verkommen, so dass es für die Massen unmöglich gewesen wäre, selbst
aktiv in die Auseinandersetzung einzugreifen. Jede Fortsetzung der Aktion hätte den
stellvertretenden Charakter der Aktion verstärkt, ohne ihren exemplarischen Wert zu
erhöhen. Zwar hatten mehrere Belegschaften Resolutionen verfasst (übrigens meist mit
völlig systemimmanenter Argumentation) und war es auf einer Baustelle zur Arbeitsniederlegung
und Teilnahme an der Blockade gekommen als der Polizeieinsatz bekannt geworden war (in
einem Metallbetrieb konnte eine ähnlich aktive Solidarisierung nur mit massiver
Einschüchterung unterdrückt werden), doch konnte nicht erwartet weiden, dass eine blosse
Fortsetzung des Rote-Punkte-Verkehrs eine Stärkung dieser Tendenzen bedeutet hätte. Viel
eher kam es jetzt darauf an, dass die Studenten und Schüler offen legten, allein keine
Steigerung der Aktion herbeiführen zu können, die nur in partiellen Streiks zur
Durchsetzung der Parole "Freie Fahrt zum Arbeitsplatz" bestehen konnte.
Nachdem der Erfolg in der Strassenbahnblockade eindeutig mit der radikalen Schüler-
und Studentenbewegung gleichgesetzt worden war, kommt es jetzt darauf an, diese
Vertrauensbasis in solche Agitation umzusetzen, die es den Arbeit -tern erlaubt, aus der
Zuschauerrolle herauszukommen. Dass das nicht aussichtslos ist, zeigt sowohl die Teilnahme
einzelner Arbeitsgruppen an der Blockade außerhalb der Arbeitszeit als auch die
Diskussionen in den Betrieben, die sich keineswegs auf die Strassenbahnaktionen
beschränkten.sondern Züge eines mühseligen Selbsterinnerungsprozesses der
Ärbeiterklasse annahmen. In dieser Hinsicht war die Straßenbahnblockade lediglich eine
Forsetzung früherer militanter Aktionen, deren manifeste Auswirkung in den Betrieben eine
immer breitere politische Diskussion war. Doch waren die Ziele der Strassenbahnaktionen so
einleuchtend, dass der leidige Streit über Aktionsformen weithin ausblieb und eine
inhaltliche Ausweitung der Diskussion stattfinden konnte. Ausserdem wurden die
Strassenbahnaktionen nicht nur in den Betrieben, sondern auch in der Familie und auf der
Strasse geführt, was durch den Charakter der Aktionen erleichtert wurde, und in seiner
Bedeutung nicht unterschätzt werden darf, weil nur so Öffentlichkeft in einem
qualitativensinn herbeigeführt werden kann. Der nachweisbare, auch ökonomisch greifbare
Erfolg der Strassenbahnaktionen führte im Bewußtsein der Arbeiter vielleicht noch nicht
zu der Einsicht, dass Kapital und Staatsmacht solidarisch generell erfolgreich bekämpft
werden können, aber doch zu dem produktiven Widerspruch, dass gerade die diffamierten
linken Schüler und Stud enten die Arbeiterinteressen vertraten, wenn sie die
Strassenbahnblockade auch gegen die Polizei aufrechterhielten. Offensichtlich war es diese
Diskrepanz zwischen der Einsicht, dass vor allem auch ihre Interessen vertreten wurden und
der Tatsache, daß wir diese Interessen wahrnahmen, die den Druck vieler Belegschaften auf
ihren Betriebsrat, etwas zu unternehmen, und die ersten Ansätze zu spontaner aktiver
Solidarisierung motivierten. Die Gewerkschaften haben in dieser Woche ihr letztes bischen
Ansehen verloren: sie unternahmen nicht nur nichts gegen die F.ahrpreiserhöhung und
bezeichneten doch nachträglich den Erfolg vor allem auch als ihren Erfolg, sondern sie
drohten uns, nachdem wir die Blockade bereits abgebrochen hatten, gar noch mit dem Entzug
ihrer Sympathiefalls wir die Aktionen fortsetzen sollten. Dies hat ihren Charakter
endgültig entlarvt - nicht nur in den Augen der Studenten, sondern auch in den Augen der
Arbeiter und Angestellt en, wie z. B. eine Stellungnahme von 80 DA G-Mitgliedern aus den
Krankenhäusern zeigt, die die Haltung ihrer Gewerkschaft, die sich um kein Haar von der
des DGB unterschied, öffentlich anprangerten.
In Heidelberg haben die Gewerkschaften ebensowenig wie die DKP oder andere
Organisationen ernsthaft versucht, die Aktionen in die Hand zu bekommen und einen
wirklichen Einfluss auf sie zu nehmen. Die Aktionen wurden von Anfang bis Ende mit der
Studenten- und Schülerbeweguqg identifiziert, die sie über SDS und ASTA organisierte.
Unsere beharrliche Agitation vor den Betrieben aber ermöglichte es, diese Aktionen in
eine längerfristige Perspektive einzuordnen, statt uns von der unerwarteten Sympathie der
Massen in einen ästnetlsieren-den Schmollwinkel zurückzuziehen (Uwe Nettelbeck, konkret
v. 14. 7. 69), oder euphorisch und unkritisch in ihr unterzugehen. Wir hatten es in
Heidelberg vor allem aus zwei Gründen leichter als die Genossen in anderen Städten:
einerseits stellte die erfolgreiche Mobilisierung der Studenten und Schüler in dieser
Mittelstadt immer schon einen gewissen Machtfaktor gegen die Stadtbürokratie und andere
Herrschaftsinstanzen dar und andererseits hatte die Mobilisierung in Heidelberg nicht zur
Auflösung oder "Zerschlagung" des SDS geführt, sondern ihn als entscheidende
revolutionäre Organisation gestärkt. In der derzeitigen Phase der Mobilisierung, in der
die Arbeiterklasse noch keine eigenen revolutionären Initiativen ergreift und die
revolutionäre Bewegung deshalb leicht zerschlagbar ist, hat gerade die Struktur einer
Mittelstadt mit einer gros-sen Universität eine gewisse Schutzfunktion. Aber schon jetzt
muß der Heidelberger SDS die engen Mobilisierungs- und Aktionsgrenzen Heidelbergs
durchbrechen, indem er seine Arbeit auf das Industriezentrum Ludwigshafen-Mannheim
ausweitet, wenn sich seine Erfolge in Heidelberg nicht als Eintagsfliegen erweisen sollen.
Dann erst wird auch die Auseinandersetzung mit der DKP, die offensichtlich gar nicht
versucht in Heidelberg organisatorisch Fuß zu fassen, eine wirkliche Bedeutung annehmen.
Dabei wird die DKP vor keinen Kampfmitteln zurückschrecken wie sich letzt wieder in
Hannover zeigte und wie es sich in Heidelberg schon in heimtückischen Intrigen anzudeuten
scheint, Diese Auseinandersetzung wird sich in dem Maße zuspitzen, wie es dem SDS, bzw.
der revolutionären Linken gelingt, tatsächliche Mobilisierungsstrategien für die
lohnabhängigen Massen auszuarbeiten und in die Praxis umzusetzen.
Vor allem die Entwicklung in Völklingen hat gezeigt, daß die Straßenbahnaktionen
sehr schnell auf die Arbeiterklasse übergreifen. Dies kann nicht global durch die
strategische Bedeutung der Konsumsphäre für den Klassenkampf erklärt werden, sondern
nur durch die spezifischen Bedingungen der Straßenbahnaktionen selbst: durch die Einheit
von ökonomischem Ziel und politischem Kampf auf der Straße und durch die Tatsache, daß
die Funktionalisierung der Nahverkehrsmittel für die Interessen des Kapitals besonders
leicht aufgezeigt werden kani^ Die Straßenbahnaktionen sind von emminenter strategischer
Bedeutung in einem sehr präzisen Sinn: sie erlauben es einer Bewegung, die ihren
Rückhalt bisher vor allem im Ausbildungssektor hatte, die Politisierung auch in die
Arbeiterklasse zu tragen und so die Bedingungen dafür zu schaffen, daß sich die
Revolutionäre in der Stadt wie Fische im Wasser bewegen können.