Ein Beitrag von Heidelberger Genossen

ROTE-PUNKT-AKTION IN HEIDELBERG

aus: Rote Presse Korrespondenz Nr. 31 vom 19.9.1969

 
Der folgende Beitrag der Heidelberger Genossen, der die ROTE PUNKT - Aktion beschreibt und ihre strategische Funktion analysiert, ist vor dem Ausbruch der Streikwelle geschrieben worden.   Wir meinen, daß die in der Produktionssphäre ausgebrochenen Kämpfe die Auseinandersetzung über den Stellenwert der Straßenbahnaktionen in der neu einsetzenden Periode von Klassenkämpfen nicht überflüssig machen.

DIE STRASSENBAHNAKTIONEN NICHT ALS ANGRIFF AUF DEN KONSUMSEKTOR MISSVERSTEHEN !

Der Erfolg der Straßenbahnblockaden in verschiedenen Städten legt die Gefahr nahe, nun endlich den allgemeinen Angriff auf die Konsumsphäre, die endgültige Zerschlagung des Konsumterrors einzuleiten. Einer solchen Konsequenz liegt eine Fehleinschätzung zugrunde sowohl der Straßenbahnaktionen als auch der Möglichkeiten, den Klassenkampf im Konsumsektor auszutragen oder auch bloß einzuleiten. Diese Interpretation der Straßenbahnblockaden unterdrückt gerade die klassenspezifischen Momente der Aktionen und verschüttet damit die Möglichkeiten einer sozialistischen Mobilisierungspolitik, die in ihr enthalten sind. Sie geht einer konkreten Analyse der Strassenbahnaktionen aus dem Weg. Entweder hält sie die Selbstorganisation des Verkehrs schon für sozialistisch und für den entscheidenden Inhalt der Straßenbahnproteste (Genosse Brückner in "konkret" vom 14. Juli 1969), oder sie nimmt den relativen Erfolg der Fahrpreisreduktion zum Anlaß, einen "roten Raster" möglicher Boykottaktionen im Konsumsektor zu entwickeln, die durch bloße Aneinanderreihung schon eine Strategie ergeben sollen. (Heinz Brandt in ' express international' vom 11. Juli 1969): Der Artikel in der Roten Presse Korrespondenz (27. Juni 1969) bleibt in dieser Hinsicht unbestimmt, wenn auch seine Terminologie zunächst gegen eine solche Fehleinschätzung zu sprechen scheint.

Die schlichte Übernahme eines Zitats aus dem Handelsblatt als Beleg dafür, wohin "konkrete" Phantasie fuhren kann. nämlich zur Besetzung von Bäckerläden, falls die Brötchen teurer werden (wobei wir dann freilich analog zum Rote-Punkte-Verkehr auch das Brötchenbacken selbst in die Hand nehmen müssten), lässt vermuten, dass die Aktionsphantasie hier eher ins Beliebige ausufert, statt durch genaue Analyse der Strassenbahnaktionen sich auf die tatsächliche Perspektive des Klassenkampfes zuzuspitzen.

Sowohl die Interpretation des Genossen Brückner als auch die Heinz Brandts abstrahieren von der Auseinandersetzung mit der Staatsmacht, die die Strassenbahnaktionen kennzeichnete. Aber gerade die Betonung dieses Aspektes läßt es allererst zu, den Stellenwert der Strassenbahnblockade in einer längerfristigen sozialistischen Strategie zu bestimmen: Dann erst stellt sich für die Massen die Frage, wem dieser Staat dient und wer ihn, wo und wie wirksam bekämpfen kann. Zudem wird nur so der reformistischen Forderung nach Verstaatlichung der Nahverkehrsbetriebe der Boden entzogen, weil klar wird, dass der Staat, der die Aktionen mit seiner Polizei unterdrücken wollte, niemals die Interessen derer vertreten kann, deren Interessen die Aktionen offensichtlich dienten.

Aktionen wie die Strassenbahnblockaden sind nicht an sich revolutionär oder reformistisch: lediglich die agitatorischen und strategischen Konsequenzen, die wir aus ihnen ziehen, lassen eine solche Beurteilung zu. Weder darf uns die Tatsache, dass der Staat in den Strassenbahnaktionen schnell einlenkte, von seiner Funktion im Klassenkampf ablenken, noch darf uns ihr Erfolg zu einer Überschätzung des Konsumsektors als Kampffeld verführan; "Die Quelle eines jeden Opportunismus liegt gerade darin, dass er von den Wirkungen und nicht von den Ursachen, von den Teilen und nicht vom Ganzen, von den Symptomen und nicht von der Sache selbst ausgeht. " dass er im Einzelinteresse und seinem Erkämpfen nicht ein Erziehungsmittel zum Endkampf, (...) sondern etwas an und für sich Wertvolles, oder wenigstens an und für sich dem Ziele Entgegenführendes erblickt, dass er - mit einem Wort - den tatsächlichen psychologischen Bewußtseinszustand der Proletarier mit dem Klassenbewusstsein des Proletariats verwechselt. " (Lukacs) In den Strassenbahnaktionen und ihrer agitatorischen Verwertung kommt es darauf an, den tatsächlichen psychelogischen Bewußtseinsstand der Proletarier, der auf die Konsumsphäre fixiert ist, in Klassenbewusstsein zu transformieren, das den Kampf gegen das Kapital auch im Betrieb aufnimmt. Diese Transformation des Bewußtseins setzt eine Entlarvung und wirksame Bekämpfung des Staates als Dienstleistungsbetrieb für das Kapital voraus.

Die Bedingungen der Strassenbahnblockaden unterscheiden sich grundsätzlich von anderen Aktionen in der Konsumsphäre. Die Fahrpreiserhöhung der Straßenbahn trifft die Individuen nicht vereinzelt zu verschiedener Zeit und an verschiedenem Ort; schon deshalb ist der Widerstand leichter organisierbar. Dieser Widerstand muß notwendig auf der Strasse stattfinden und ist als Widerstand auf der Strasse viel leichter legitimierbar als etwa Protestaktionen gegen die Erhöhung der Butterpreise, und zwar nicht nur weil die Fahrpreiserhöhungen von staatlichen Instanzen abhängig sind, sondern auch weil der ökonomische Zweck der Aktionen, die Strassenbahngesellschaften durch finanzielle Nachteile zum Einlenken zu zwingen, viel leichter mit dem politischen Kampf auf der Strasse zu vermitteln ist, der diese Nachteile für die Strassenbahngesellschaften mit sich bringt. Sind aber die ökonomischen Kam pfmittel (wirksamer Boykott) und der politische Protest (Strassendemonstration) aufeinander angewiesen und voneinander abhängig, so sind auch die unmittelbaren Kampfziele (Fahrpreisreduktion) viel leichter mit dem Klassenkampf im Betrieb zu vermitteln als bei anderen Aktionen in der Konsumsphäre, weil dem Strassenbahnverkehr schlechterdings nichts Luxuriöses anhängt und jedem klar ist, dass er die Strassenbahn bloss deshalb benutzt, weil er zur Arbeit muss und weil er ohne Arbeit nicht leben kann. Deshalb ist sehr leicht klar zu machen, dass für die Strassenbahn die zu zahlen haben, die von der Arbeit profitieren, die Kapitalisten. und dass die permanenten verschleierten Lohnkosten, die solche Fahrpreiserhöhungen bedeuten, nur mit der Lohnarbeit selbst verschwinden.

Wenn aber die Strassenbahnaktionen relativ leicht mit dem Grundwiderspruch von Lohnarbeit und Kapital zu vermitteln sind und der politische Kampf auf der Strasse auch als ökonomisches Kampfmittel leicht auszuweisen ist, so enthalten sie doch andere weniger eindeutige Elemente: den zunächst unbestimmten Ärger über die allgemeine Preissteigerung und die Möglichkeit, die ganze Auseinandersetzung auf eine finanz-und steuertechnische Streiterei zwischen Gemeinden, Ländern und Bund zurückzuschrauben. Diese entpolitisierenden Blemente werden noch dadurch verstärkt, dass die Auseinandersetzung um die Fahrpreise beim derzeitigen Mobilisierungsgrad der Massen aktiv nur von einer Minderheit getragen werden konnten, die alles darauf anlegen musste, den kapitalistischen Alltag in der Produktionssphäre aufrecht zu erhalten, d. h. dafür zu sorgen, dass die arbeitenden Massen pünktlich zur Steckuhr kamen. Dieser Widerspruch zwischen antikapitalistischer Argu-mentation gegen die Fahrpreiserhöhung und auf den kapttalistischen Alltag ausgerichteten Rote-Punkte-Verkehr, konnte in der Agitation nur artukuliert werden, indem wir zeigten, das9 die "Lohn-Preis-Spirale" bloss mit der kapitalistischen Organisation der Produktion abgescharrt werden kann und auch in der Auseinandersetzung mit der Staatsgewalt nicht aufgehoben wird, die diese Organisation schon schützt, wenn sie den an sich harmlosen Protest gegen die Fahrpreiserhöhung vergeblich zu zerschlagen sucht. Der zwielichtige Charakter der Aktion durfte also gerade nicht vertuscht werden, sondern es musste festgehalten werden, dass die Strassenbahnaktionen, da antikapitalistisch motiviert, folgerichtig durch Streiks auch in die Produktionsyhäre getragen werden müssten, um das Ziel " Zahlt die Strassenbahn aus Unternehmerprofiten" zu erreichen.

Diese Parole, wie auch die Forderung nach "Freier Fahrt zum Arbeitsplatz" hatten wir aufgestellt, um den zwiespältigen Charakter der Strassenbahnaktionen agitatorisch hervorzuheben und aufzuzeigen, wie er praktisch, nämlich durch Verbindung der Blockade mit Streiks in den Betrieben und durch die Funktiona-lisierung des Rote-P unkte-Verkehrs für die Streikenden, überwunden werden könnte. Wir versuchten deshalb solche Fragen wie Ausbildungsfürderungsgesetz, analytische Arbeitsplatzbewertung und Aufwertung der DM in die publizistische Aufklärung aufzunehmen, um die Strassenbahnaktionen nicht zu isolieren.

VERLAUF DER AKTIONEN

Als im April die Absicht der Fahrpreiserhöhung veröffentlicht worden war, begann das Sozialreferat des ASTA mit der Verteilung der Roten Punkte. Mitte Mai beschloss das Studentenparlament, die für den l. Juni geplante Fahrpreiserhöhung mit einer flexiblen Aktionsstrategie, die vom kollektiven Zahlungsboykott bis zur generellen Blockade reichen sollte, zu bekämpfen. Dieser Beschluss wurde in der Lokalpresse veröffentlicht und auf Flugblättern verbreitet und zwang die Herrschaftsseite zu ernsten Manövern, obwohl sie offiziell keine Kenntnis von unserer Aktionsankündigung nahm: am selben Tag, als der Heidelberger Gemeinderat die Fahrpreiserhöhung billigte, verweigerte das Regierungspräsidium seine Zustimmung, was den ursprünglichen Zeitplan der Heidelberger Strassenbahn Gesellschaft durcheinanderbrachte. Die Fahrpreiserhöhung konnte nun nicht wie ursprünglich vorgesehen am l. Juni eingeführt werden. Das Regierungspräsidium begründete seinen spektakulären Schritt damit, dass vor der endgültigen Entscheidung weitere Gutachten und Beratungen nötig seien. Da unsere Aktionsankündigung allgemein bekannt war, konnte das Manövrieren des Regierungspräsidiums und sein Gegensatz zur Stadtbürokratie und HSB von den Massen leicht interpretiert werden, so dass der SPD-Oberbürgermeister Zundel nicht zu Unrecht befürchtete, der Entschluss des Regierungspräsidiums könnte als unser Erfolg "missverstanden" werden.

Für uns ergab sich durch diese Verschiebung die Möglichkeit, in einer schon aufmerksam gewordenen Öffentlichkeit eine grosse Flugblattkampagne vor den Betrieben und in der Stadt einzuleiten. Als der neue Termin der Fahlpreiserhöhung (15. Juni) bekannt gegeben wurde, riefen wir ein teach-in ein, auf dem vor allem noch einmal die Argumentation und die Taktik diskutiert wurden, um den einzelnen Teilnehmern an der Aktion eine selbständige Agitation zu erleichtern. Da anzunehmen war, daß die Herrschaftsseite inzwischen alle Möglichkeiten durchgespielt hatte, um eine Fahrpreiserhöhung vielleicht zu verhindern oder doch für längere Zeit zu verschieben, konnten wir kaum noch auf einen unmittelbaren Erfolg der Aktion rechnen. Wir neigten deshalb dazu, den Erfolg lediglich in der Aufklärung und nicht auch in der Verhinderung der Fahrpreiserhöhung zu sehen.

Da wir mit sorgfältig vorbereiteten Polizeieinsätzen zu rechnen hatten, kam es darauf an, die Polizei selbst instrumental einzusetzen, weil sie durch ihre Unbeweglichkeit viel besser geeignet ist, den Verkehr lahmzulegen als wir.

Nachdem wir zwei Tage lang Flugblätter in den S tr assenbahnen verteilt und verah ied entlich die Zahlung boykottiert hatten ' (eine Betriebslehrlingsgruppe hatte schon am 13. nach Arbeitsschluß damit begonnen) blockierten wir am Sonntag, dem 15. Juni, zweimal für kürzere Zeit exemplarisch den Strassenbahnverkehr, bemalten die Strassenbahmen mit Parolen und agitierten mit Sprechchören. Am Abend veröffentlichten die HSB und OB zwei Stellungnahmen, die klar bewiesen, dass sie die Fahrpreiserhöhung notfalls mit Polizeigewalt durchsetzen wollten. Beide versuchten auf vermuteten Ressentiments gegen den SDS herumzureiten und warnten, vor dem Chaos, das wir angeblich wollten, und dem sie im Interesse der Bevölkerung zu steuern gedächten. Doch offensichtlich war die Legitimation für einen Polizeieinsatz zu diesem Zeitpunkt schon so angeschlagen, das am Montag, obwohl wir seit 7 Uhr den Verkehr blockierten, kein Polizeieinsatz mehr gewagt werden konnte, wenn auch starke Kräfte im Stadtzentrum zusammengezogen waren und ein Polizeihubschrauber in der Luft war, um den Einsatz zu leiten. Als auch der Berufsverkehr, den die Arbeiter z.T. selbst organisierten, nicht zu dem erwünschten Chaos führte, beschränkte sich die Polizei darauf, eine südafrikanische Tanzveranstaltung zu schützen. Sicher war der Stadtbürokratie nach den Erfahrungen in Hannover , auf die wir in der Agitation immer wieder hinwiesen, die ursprünglich geplante Taktik eines massiven Polizeieinsatzes bei gleichzeitiger Hetze gegen die Betroffenen zunächst suspekt geworden. Am Dienstag, dem 17. Juni, ließ sich die Polizei gar nicht sehen. Aber der OB fand nun, nachdem auch der Innenminister heimlich in der Stadt und im Polizeipräsidium gewesen war und ein "Vermittlungsversuch" zweier Jusos (wir sollten die Blockade aufheben) gescheitert war, so starke Worte, dass wir für Mittwoch früh sicher mit einem Polizeieinsatz rechnen konnten. Ab fünf Uhr glich die Strasse einer Polizeifestung. Starke Polizeikräfte an jeder Kreuzung und Haltestelle sollten eine weitere Blockade präventiv verhindern. Wir brachten die Polizei zunächst durch die Blockade einzelner Bahnen in Bewegung und blockierten dann zusammen mit den Schülern wieder das Zentrum. Es kam nun zu stundenlangem Gerangel mit der Polizei. Die Polizeiführung wagte jedoch keinen Knüppeleinsatz, der die Aktionen in der sympathisierenden Stadt lediglich dezentralisiert und die Stadtbürokratie wahrscheinlich in grosse Schwierigkeiten gebracht hätte. Die jungen Bereitschaftspolizisten waren sehr schnell demoralisiert, mussten ununterbrochen ausgewechselt und bald insgesamt in Bereitschaftstellung abgezogen werden. Damit war der gewaltsame Durchsetzungsversuch gescheitert und die Stadtbürokratie musste etwas unternehmen, wenn sie sich nicht lächerlich machen wollte. A m Abend wurde der ohnehin lahmgelegte HSB-Betrieb ganz eingestellt. In der Nacht wurde die Fahrpreiserhöhung zurückgenommen. Am Donnerstagabend wurde auf einer Massenversammlung der Abbruch der A ktionen beschlossen. Auf diesem teach'in, auf dem auch die DKP auftrat, wurde noch einmal eine strategische Bestimmung der Aktion versucht. Die Mehrheit stimmte deshalb für Abbruch, weil es keinen Sinn hatte, nach dem eindeutigen politischen Erfolg um weitere Pfennige zu feilschen, da klar war, dass die Aktion keine neue Qualität bekommen könnte, nachdem die HSB schon angekündigt hatte, den Verkehr bei weiteren Aktionen nicht wieder aufzunehmen. Ohne Blockade aber wäre der Rote-Punkte-Verkehr zum blossen Dienst leistungsbetrieb verkommen, so dass es für die Massen unmöglich gewesen wäre, selbst aktiv in die Auseinandersetzung einzugreifen. Jede Fortsetzung der Aktion hätte den stellvertretenden Charakter der Aktion verstärkt, ohne ihren exemplarischen Wert zu erhöhen. Zwar hatten mehrere Belegschaften Resolutionen verfasst (übrigens meist mit völlig systemimmanenter Argumentation) und war es auf einer Baustelle zur Arbeitsniederlegung und Teilnahme an der Blockade gekommen als der Polizeieinsatz bekannt geworden war (in einem Metallbetrieb konnte eine ähnlich aktive Solidarisierung nur mit massiver Einschüchterung unterdrückt werden), doch konnte nicht erwartet weiden, dass eine blosse Fortsetzung des Rote-Punkte-Verkehrs eine Stärkung dieser Tendenzen bedeutet hätte. Viel eher kam es jetzt darauf an, dass die Studenten und Schüler offen legten, allein keine Steigerung der Aktion herbeiführen zu können, die nur in partiellen Streiks zur Durchsetzung der Parole "Freie Fahrt zum Arbeitsplatz" bestehen konnte.

Nachdem der Erfolg in der Strassenbahnblockade eindeutig mit der radikalen Schüler- und Studentenbewegung gleichgesetzt worden war, kommt es jetzt darauf an, diese Vertrauensbasis in solche Agitation umzusetzen, die es den Arbeit -tern erlaubt, aus der Zuschauerrolle herauszukommen. Dass das nicht aussichtslos ist, zeigt sowohl die Teilnahme einzelner Arbeitsgruppen an der Blockade außerhalb der Arbeitszeit als auch die Diskussionen in den Betrieben, die sich keineswegs auf die Strassenbahnaktionen beschränkten.sondern Züge  eines mühseligen Selbsterinnerungsprozesses der Ärbeiterklasse annahmen. In dieser Hinsicht war die Straßenbahnblockade lediglich eine Forsetzung früherer militanter Aktionen, deren manifeste Auswirkung in den Betrieben eine immer breitere politische Diskussion war. Doch waren die Ziele der Strassenbahnaktionen so einleuchtend, dass der leidige Streit über Aktionsformen weithin ausblieb und eine inhaltliche Ausweitung der Diskussion stattfinden konnte. Ausserdem wurden die Strassenbahnaktionen nicht nur in den Betrieben, sondern auch in der Familie und auf der Strasse geführt, was durch den Charakter der Aktionen erleichtert wurde, und in seiner Bedeutung nicht unterschätzt werden darf, weil nur so Öffentlichkeft in einem qualitativensinn herbeigeführt werden kann. Der nachweisbare, auch ökonomisch greifbare Erfolg der Strassenbahnaktionen führte im Bewußtsein der Arbeiter vielleicht noch nicht zu der Einsicht, dass Kapital und Staatsmacht solidarisch generell erfolgreich bekämpft werden können, aber doch zu dem produktiven Widerspruch, dass gerade die diffamierten linken Schüler und Stud enten die Arbeiterinteressen vertraten, wenn sie die Strassenbahnblockade auch gegen die Polizei aufrechterhielten. Offensichtlich war es diese Diskrepanz zwischen der Einsicht, dass vor allem auch ihre Interessen vertreten wurden und der Tatsache, daß wir diese Interessen wahrnahmen, die den Druck vieler Belegschaften auf ihren Betriebsrat, etwas zu unternehmen, und die ersten Ansätze zu spontaner aktiver Solidarisierung motivierten. Die Gewerkschaften haben in dieser Woche ihr letztes bischen Ansehen verloren: sie unternahmen nicht nur nichts gegen die F.ahrpreiserhöhung und bezeichneten doch nachträglich den Erfolg vor allem auch als ihren Erfolg, sondern sie drohten uns, nachdem wir die Blockade bereits abgebrochen hatten, gar noch mit dem Entzug ihrer Sympathiefalls wir die Aktionen fortsetzen sollten. Dies hat ihren Charakter endgültig entlarvt - nicht nur in den Augen der Studenten, sondern auch in den Augen der Arbeiter und Angestellt en, wie z. B. eine Stellungnahme von 80 DA G-Mitgliedern aus den Krankenhäusern zeigt, die die Haltung ihrer Gewerkschaft, die sich um kein Haar von der des DGB unterschied, öffentlich anprangerten.

In Heidelberg haben die Gewerkschaften ebensowenig wie die DKP oder andere Organisationen ernsthaft versucht, die Aktionen in die Hand zu bekommen und einen wirklichen Einfluss auf sie zu nehmen. Die Aktionen wurden von Anfang bis Ende mit der Studenten- und Schülerbeweguqg identifiziert, die sie über SDS und ASTA organisierte. Unsere beharrliche Agitation vor den Betrieben aber ermöglichte es, diese Aktionen in eine längerfristige Perspektive einzuordnen, statt uns von der unerwarteten Sympathie der Massen in einen ästnetlsieren-den Schmollwinkel zurückzuziehen (Uwe Nettelbeck, konkret v. 14. 7. 69), oder euphorisch und unkritisch in ihr unterzugehen. Wir hatten es in Heidelberg vor allem aus zwei Gründen leichter als die Genossen in anderen Städten: einerseits stellte die erfolgreiche Mobilisierung der Studenten und Schüler in dieser Mittelstadt immer schon einen gewissen Machtfaktor gegen die Stadtbürokratie und andere Herrschaftsinstanzen dar und andererseits hatte die Mobilisierung in Heidelberg nicht zur Auflösung oder "Zerschlagung" des SDS geführt, sondern ihn als entscheidende revolutionäre Organisation gestärkt. In der derzeitigen Phase der Mobilisierung, in der die Arbeiterklasse noch keine eigenen revolutionären Initiativen ergreift und die revolutionäre Bewegung deshalb leicht zerschlagbar ist, hat gerade die Struktur einer Mittelstadt mit einer gros-sen Universität eine gewisse Schutzfunktion. Aber schon jetzt muß der Heidelberger SDS die engen Mobilisierungs- und Aktionsgrenzen Heidelbergs durchbrechen, indem er seine Arbeit auf das Industriezentrum Ludwigshafen-Mannheim ausweitet, wenn sich seine Erfolge in Heidelberg nicht als Eintagsfliegen erweisen sollen. Dann erst wird auch die Auseinandersetzung mit der DKP, die offensichtlich gar nicht versucht in Heidelberg organisatorisch Fuß zu fassen, eine wirkliche Bedeutung annehmen.

Dabei wird die DKP vor keinen Kampfmitteln zurückschrecken wie sich letzt wieder in Hannover zeigte und wie es sich in Heidelberg schon in heimtückischen Intrigen anzudeuten scheint, Diese Auseinandersetzung wird sich in dem Maße zuspitzen, wie es dem SDS, bzw. der revolutionären Linken gelingt, tatsächliche Mobilisierungsstrategien für die lohnabhängigen Massen auszuarbeiten und in die Praxis umzusetzen.

Vor allem die Entwicklung in Völklingen hat gezeigt, daß die Straßenbahnaktionen sehr schnell auf die Arbeiterklasse übergreifen. Dies kann nicht global durch die strategische Bedeutung der Konsumsphäre für den Klassenkampf erklärt werden, sondern nur durch die spezifischen Bedingungen der Straßenbahnaktionen selbst: durch die Einheit von ökonomischem Ziel und politischem Kampf auf der Straße und durch die Tatsache, daß die Funktionalisierung der Nahverkehrsmittel für die Interessen des Kapitals besonders leicht aufgezeigt werden kani^ Die Straßenbahnaktionen sind von emminenter strategischer Bedeutung in einem sehr präzisen Sinn: sie erlauben es einer Bewegung, die ihren Rückhalt bisher vor allem im Ausbildungssektor hatte, die Politisierung auch in die Arbeiterklasse zu tragen und so die Bedingungen dafür zu schaffen, daß sich die Revolutionäre in der Stadt wie Fische im Wasser bewegen können.