Peter Gäng
Organisation und Klassenfrage

Aus: NEUE KRITIK - Zeitschrift für Theorie und Politk Nr. 53,
April 1969, 10. Jahrgang, Heft l der neuen Redaktion

Wenn die gegenwärtigen Versuche zur Reorganisation des SDS an den Hochschulen (besonders der größeren Gruppen) zu mehr führen sollen als zu einer zeitweiligen Selbsttäuschung über den organisatorischen Zerfall, dann ist es notwendig, organisatorische Intentionen und organisatorische Wirklichkeiten streng zu trennen, um aus der Analyse der organisatorischen Wirklichkeit mindestens Anhaltspunkte für die Vermeidung schwerwiegender Fehler zu gewinnen. Man muß nur einmal verfolgen, wie neu gebildete Gruppen (Arbeits-, Projekt- oder wie immer-Gruppen) auseinanderfallen, begleitet von Rationalisierungen, daß man sich nur an einem konkreten praktischen Projekt organisieren könne (wenn es sich um eine theoretisch arbeitende Gruppe handelt) oder daß das praktische Herumgewurschtel dringend der theoretischen Reflexion bedürfe, die erst den Grad an Allgemeinheit und Verbindlichkeit schaffe, der Organisation möglich mache (soweit es sich um praktische Projektgruppen handelt). In disziplinierten Gruppen rebellieren die Genossen gegen den repressiven Gruppenzwang (wenn's günstig kommt, personalisierbar auf eine Autorität). In "antiautoritären" Gruppen grassiert die Idee von den kollektiven Lernprozessen, welche ein verbindliches Arbeiten nach sich ziehen sollen. Da mag man schon etwas skeptisch sein, ob neue Gruppen, neue Zusammenschlüsse von Gruppen, neue kommunikative, informative, exekutive etc. Zentralen irgend etwas ändern werden.

Das ändert leider nichts daran, daß die antiautoritäre Bewegung in eine Phase gekommen ist, in der die Organisationsfrage für sie zur Lebensfrage wird. Es steht alternativ, ob es uns gelingt, uns organisatorisch auf die Weiterführung und Erweiterung des Kampfes gegen das kapitalistische Herrschaftssystem einzurichten, oder ob die antiautoritäre Bewegung sidi in eine linke Subkultur auflöst, die ganz sicher zu punktuellen Kampfakten gegen den kapitalistischen Herrschaftsapparat fähig ist, aber ganz sicher nicht zu einer kontinuierlichen Erweiterung und Intensivierung des Klassenkampfes. Oder anders: ob es uns gelingt, in kontinuierlicher, disziplinierter und hartnäckiger Arbeit außerhalb der Hochschulen, in den Betrieben, eine Basis zu schaffen, oder ob wir weiterhin in den Hochschulen rotieren bis es uns vollends schwindelig wird. Die Revolution hängt glücklicherweise nicht allein davon ab, ob wir diese Aufgabe lösen: der Anfang ist mit den Basis- und Betriebsgruppen inzwischen gemacht. In der Frage der Transformation der antiautoritären Bewegung in eine sozialistische Organisation liegt jedoch gleichzeitig die Frage nach dem Ausgangspunkt der außeruniversitären Arbeit. Gelingt die Transformation nicht, dann hatte die Rebellion der letzten Jahre nur Initialfunktion. Dafür aber hat sie zuviel Arbeit gekostet.

Die Strategie für die Phase der partiellen Transformation der antiautoritären Studentenrebellion in eine nichtreformistische Betriebsarbeit ist nicht so unklar, daß sich nicht ihre organisatorischen Voraussetzungen bestimmen ließen. Die bisherige Arbeit der Basisgruppen liefert die Erfahrungen von den ersten Kontaktaufnahmen bis hin zur innerbetrieblichen Verallgemeinerung von Betriebskonflikten (durch Betriebszeitungen etc.) und zur Zusammenarbeit mit Betriebsgruppen; Fehler genug sind gemacht worden, um daraus zu lernen. Die politische Mobilisierung der Studenten ist an vielen Universitäten soweit vorangeschritten, daß der subjektive Anspruch auf eine außeruniversitäre Praxis während und nach dem Studium entstanden ist. Organisatorisch zu leisten wäre von daher sowohl die Zentralisierung der Basisgruppenarbeit wie auch eine Umstrukturierung der Arbeit an den Hochschulen, die es ermöglichen würde, daß von der Hochschule aus eine Zusammenarbeit mit den Basisgruppen als auch ein Übergang in Basisgruppen stattfinden kann. Erst so kann die Hochschule (als Ausbildungsinstitut, als wissenschaftliches Reservoir und als Nachschubbasis) wirklich zu einem starken Hebel der Revolution werden.

(Organisatorische Implikationen der "revolutionären Berufsperspektive" werden hier bewußt ausgeklammert. Solange die Universität noch Hauptkonfliktpunkt ist, solange außer denjenigen Genossen, die zu einer Zeit studiert haben, in der man noch studieren konnte, sowieso kaum ein Genösse eine Prüfung ablegen wird (und die Veränderung der Prüfungsbedingungen ist noch nicht sehr weit vorangeschritten), solange potentielle revolutionäre Berufspraktiker entweder wegen ihrer Teilnahme an politischen Aktionen oder wegen einer nicht sehr schlauen Politik der Selbstanzeigen (schlecht organisiert, so daß sich nur mehrere hundert Genossen anzeigten, deren Namen sowieso schon zum größten Teil in schwarzen Listen stehen dürften) relegiert werden, solange bleibt es eine linke Phrase, vom Erlernen des Berufs im Klassenkampf, von revolutionären Berufsperspektiven und ähnlichem zu reden.)

Die unmittelbare Aufgabe ist von daher, die Hochschulrebellion Jetzt auf die Spitze zu treiben (das bundesweite Ordnungsrecht liefen dazu Ansatzpunkte genug), um daraus die Kraft für die Verlagerung des Hauptkonfliktes von der Hochschule auf die Betriebe zu gewinnen und gleichzeitig die dafür notwendigen strukturellen Voraussetzungen zu schaffen. Nach unseren bisherigen Erfahrungen werden wir allerdings Schwierigkeiten haben, das eine wie das andere zu organisieren.

Um diese Schwierigkeiten anzugehen, sollte man zumindest wissen, woher sie kommen. Es besteht im SDS gegenwärtig große Neigung, auf derartige Probleme psychoanalytische Theorien anzuwenden. Das hat mehrere Gründe: zum einen ist es leichter, sich psychoanalytische Theoriefragmente anwendungsgerecht anzueignen, als dies bei der marxistischen Theorie der Fall ist, zum anderen ist die organisatorische Herrschaftsausübung durch Theoriebesitz bei der psychoanalytischen Theorie einfacher und direkter als bei der marxistischen Theorie (jeder kennt das Schema:

Rationalisierung, Verdrängung, Projektion etc. sind die Vorwürfe, die jede Objektivierung politischer Differenzen hinfällig machen und die Aufhebung der Trennung von Politik und Privatleben endgültig in der Form der Privatisierung der Politik lösen), zum dritten ist die Psychoanalyse durch ihre Allerweltserklärerei viel besser gegen empirische Eindrücke gefeit als dies bei einer politisch-ökonomischen Theorie der Fall ist. Schlauerweise wird deshalb auch der Bezug zwischen Gültigkeit der psychoanalytischen Theorie und bürgerlich bis kleinbürgerlicher Klassenherkunft übersehen.

Die entscheidende Folge der Klassensituation der rebellierenden Kleinbürger liegt in der Organisationsfeindlichkeit. In ihr spiegelt sich die Klassenlage des rebellierenden Kleinbürgers doppelt: seine richtige Rebellion gegen Leistungszwang und Autorität wird zur formal gleichen aber inhaltlich falschen Rebellion auch gegen Arbeit und Disziplin einer revolutionären Organisation; sein Verständnis von Organisation als Mittel der individuellen Emanzipation konstituiert bestenfalls noch einen Stirnerschen »Verein der Freien", aber keine Organisation, die selber zum

Subjekt ihres politischen Verhaltens wird. Während innerhalb der Arbeiterklasse auf grund deren eindeutiger Klassenlage Organisation immer erst" das historische Subjekt konstitutieren kann, setzt sich der Kleinbürger selber als Subjekt, so wie er sich als Subjekt seines Auf- oder Abstiegs innerhalb der kapitalistischen Hierarchie gesehen hat, und begreift die Organisation nur als Mittel, ihm dieses Subjektsein zu erleichtern. Gerade durch diese Instrumentalisierung der Organisation aber verhindert er die Form der Emanzipation, die unter kapitalistischen Bedingungen erreichbar wäre: die Solidarität. Gleichzeitig stellt sich die Notwendigkeit von Organisation nicht innerhalb des objektivierbaren Rahmens der Effektivität im Klassenkampf, sondern nur im subjektiven Rahmen der jeweiligen psychischen Befindlichkeit. Funktionieren radikale Aktionen gerade einmal, ist die Diskussion über die Reorganisaton nahezu aus der Welt verschwunden (unabhängig davon, ob die Aktionen uns im Klassenkampf auch nur einen Schritt weiterbringen). Daß diese Organisationsfeindlichkeit, solange sie nicht in ihrer klassentheoretischen Beziehung erkannt ist, sich in den verschiedensten Argumenten äußerst, scheint einsichtig. Totale Ablehnung von Bürokratie (obwohl ein Minimum an Bürokratie notwendig ist, um eine funktionierende Organisation aufrechtzuerhalten); Frustration sowohl über endlose Diskussionen, die sich nur schwerfällig auf ihr Ziel zubewegen, als auch über gut vorbereitete Diskussionen, die gar zu leicht den Eindruck des Abgekarteten machen; Klagen über den Mangel an Verbindlichkeit und Ablehnung jeder allemal mit einem gewissen Zwang auftretenden Verbindlichkeit etc. etc. sind nur die bekanntesten. Freilich würde es wenig helfen, über diese Schwierigkeiten nur zu lamentieren oder gar organisatorische Gewaltlösungen anzustreben. Bisher isl die Dialektik von individueller und gesamtgesellschaftlicher Emanzipation, die sich äußert im Widerspruch zwischen individueller Emanzipation und schlagkräftiger, zu kontinuierlichem Klassenkampf fähiger Organisation, immer zu Ungunsten der individuellen Emanzipation gelöst worden — die Ergebnisse haben sich in Reichs Analysen der kommunistischen Massenorganisationen der Weimarer Republik niedergeschlagen und lassen sich heute noch in den sozialistischen Ländern wiederfinden. Von daher stellt uns die besondere Klassensituation der antiautoritären Bewegung vor die zwar schwierige und vielleicht als fast unlösbar erscheinende, aber doch historisch notwendige Aufgabe und Chance, diese Dialektik eben nicht falsch aufzuheben. Daß wir bisher noch keine nennenswerten Erfolge in der Vermittlung individueller Schwierigkeiten und Nöte mit unserer politischen Aktivität und Organisation hatten, darf uns dabei nicht entmutigen.