Ab den Zopf
Statt persönlicher Ohnmacht
entstand ein Gefühl der Stärke

Zur Zeit des Wiederaufbaus war man damit beschäftigt, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Mit der Ordnung davor und der Ordnung danach, ließ sich - so schien es - vieles bewältigen. Jede Abweichung, jede Verletzung der herrschenden Anstandsregeln wurde ängstlich registriert und der Kritik unterzogen. Aufzufallen hatte etwas Skandalöses, galt als unsittlich und verwerflich.

Gegen die moralische Restauration und gegen ein Leben, das vom Jugendverbot umstellt an die alte Zucht und Ordnung erinnerte, wehrte sich ein kleiner Teil der Nachkriegsjugend und machte von sich reden. Gesellschaftlich "unten" und kulturell "vorn", fühlten sich diese Jugendlichen weit weniger von Amerika "besetzt" als ihre Eltern. Sie waren vielmehr fasziniert von der US-Kultur und bedienten sich amerikanischer Stilimporte: Rock 'n' Roll und Jeans, Elvis und Haley, Dean und Brando, Jane Mansfield, Marilyn Monroe, Micky Mouse, Tarzan und Tom Mix. Bereits ein Kaugummi - als Geschenk von einem schwarzen GI an der Ecke - konnte, im Unterricht zwischen Wangen und Zähnen versteckt, einen Oberstudienrat aus der Fassung bringen und zu unüberlegten Handlungen hinreißen. Die Existentialisten, die Halbstarken waren damals ungewöhnliche Gestalten - als solche wurden sie publik - von vielen jedoch kann nicht die Rede sein. Insgesamt galt die Verletzung der Anstandsregeln und ihrer ästhetischen Normen als Kennzeichen kleiner Cliquen und Einzelgängern; allerdings richtete sich das Augenmerk jetzt auch mehr auf "die Jugend" und weniger auf den "verrückten Künstler".




Als Ende der 50er Jahre die Stilelemente auch noch zunehmend vermarktet und durch Filme, Schallplatten usf. popularisiert wurden, als der traditionelle Normenkanon mit jenen neuen Stilelementen ohne Probleme eine Synthese einging, schien die ganze Rebellion verpufft. Enttäuscht sprach man bereits wieder von einer "Zeit der Anpassung", von der "ferngelenkten" statt der "skeptischen Generation". "Keine Revolten, keine Ekstasen, nur gemanagte Sensationen." (Vgl. Martin Ripkens, Filmkritik 1964.)

Ab den Zopf

Waren Exis(tentialisten) und Halbstarke relativ kleine Gruppen, ohne große Resonanz und Auswirkungen auf die Mehrzahl der Jugendlichen, so orientierte sich in den 60er Jahren an den Beat-Fans, den Antiautoritären, den Politischen, den Hippies und Freaks, den kleinen radikalen Minderheiten eine ganze Generation. Massendemonstrationen und verknöcherte Moraldiktat der Erwachsenen - der Eltern, wie der Lehrer und Lehrherrn -, sondern auch gegen Elite und Herrschaff, gegen Establishment und Norm, die Macht des Kapitals, den Staat und die Gesellschaft.

Da "die Alten" zwanzig Jahre lang versäumt hatten, "ihren Faschismus" zu verarbeiten, und nach altbekannten Mustern mit Autorität und Zwang ihr eigenes Zuhause in Ordnung halten wollten, sahen die Jungen nur in einer umfassenden Erneuerung den Beginn ihrer Zukunff. Daran führte kein Weg vorbei, viele waren überzeugt, es selbst tun zu müssen, mochte der Marsch auch noch so lang sein. Ehemalige Sonntagskinder - und es waren viele - vertauschten ihre Sonntagskleider, den Sonntagsanzug samt weißem Hemd und Krawatte, das Sonntagskleidchen samt weißen Söckchen mit Jeans und T-Shirts, bequemen Pullovern und Parkas und hörten Beat und Rockmusik. Die Gedanken waren frei, nicht jedoch die Kleiderordnung. "Benimm dich, zieh dich ordentlich an und laß dir endlich mal die Haare schneiden. So wie du rumläufst, das ist doch einfach nicht normal."

Die plakative Form war das eigentlich Schockierende, das die Abweichung von der herrschenden Norm und die Abkehr von traditionellen Verhaltensmustern unübersehbar machte, und bei den Jugendlichen ein "Wir-Gefühl" erzeugte. Es war die Klammer, die so unterschiedliche, ja widersprüchliche Bewegungen wie die Flower power und den politischen Protest der Studentenbewegung verband. Es war eine nicht nur symbolische Befreiung aus einer Gesellschaft, die dauerhaft nach dem Muff kultureller Provinz roch. Nicht nur der SDSler, auch politisierte Schüler oder Lehrlinge lebten im Geist und mit der Geste des Revolutionärs; doch war nicht nur die richtige Haltung wichtig, als Erneuerer mußte man auch erkennbar sein: "Ein Revolutionär der nicht darauf bedacht ist, seine Eltern durch unbürgerliche Kleidung und Haarschnitt vor den Kopf zu stoßen, ist eben noch weitgehend seiner bürgerlichen Herkunff verhaftet"(Kommune 2,1969).

Sieht man die Jugendlichen von damals heute auf Fotos wirken sie off recht brav und bieder. Ihre provozierende Wirkung ist heute nicht mehr recht verständlich. Doch waren es diese Äußerungsformen, die auf einen Großteil der damaligen Jugend eine viel stärkere Anziehungskraft hatten als die Theoriedebatten der 68er.

Freie Wahl des eigenen Aussehens statt Kleider und Benimmnormen, freie Schule statt autoritäre Erziehungsanstalten, freie Sexualität statt Prüderie, Kommune statt Familie.

Ein bißchen längere Haare, ein wenig zu kurze Röcke, ein paar Fragen nach der Vergangenheit, vielleicht eine andere Vorstellung der eigenen Zukunft, wurden sofort als ein Liebäugeln mit jenen kleinen radikalen Minderheiten bemerkt und gerügt. "Jetzt fängst du auch schon an", war ein häufiger Vorwurf in damaligen Elternhäusern. Statt persönlicher Ohnmacht jedoch entstand ein Gefühl von Stärke, war man doch nicht mehr einer von wenigen, ausschließlich bezogen auf sich selbst oder eine kleine Gruppe, sondern einer von vielen, verbunden mit dem gemeinsamen Ziel, Teil der Zukunft zu sein.

People try to put us down

just because we get around

things they do look awful cold

I hope I die befor I get old

"My Generation", einer der größten Hits der Who in den 60ern. Bei Konzerten war dieses Stück die obligatorische Zugabe, danach wurden die Gitarren auf den Verstärkern zerschlagen und Lautsprecherboxen angesteckt:

Hope is on my generation.

aus: Willi Bucher & Klaus Pohl, Lieber lebendig als normal, in: Schock und Schöpfung,Hrg.: Deutscher Werkbund e.V., Darmstadt und Neuwied 1986, S. 27ff