Monika SteffenWas die Studenten in Frankfurt gelernt haben Positionspapier vom 25. Januar 1969
QUELLE: SDS-Bundesvorstand (Hg.), SDS-Info vom 26. Januar 1969, Nr. 4. S. 19-24
Die Notwendigkeit einer historischen Analyse der Frankfurter Studentenrevolte ergibt sich aus folgenden objektiven Schwierigkeiten der politischen Situation an der Hochschule, wobei die Schwierigkeiten sich am deutlichsten gegenwärtig bei den Soziologen zeigen. Insofern könnten sie ein Paradigma für andere Fächer und Fakultäten abgeben.
Analog der Ungleichzeitigkeit innerhalb der politisch aktiven Studenten der Gesamtuniversität gibt es konkrete Ungleichzeitigkeiten bei den Teilnehmern der selbstorganisierten Arbeitsgruppen. Hier muß betont werden, daß es sich um objektive Schwierigkeiten handelt und nicht um ein Scheitern oder »Abbröckeln«, wie es manche Leute offenbar wünschen.
Drei Gruppen von Teilnehmern mit dreierlei verschiedenen Bedürfnissen an der Selbstorganisation von Arbeitsgruppen lassen sich ausmachen: die einen nahmen teil, um Informations- und Verständnislücken in bezug auf die bisher gelehrte Frankfurter »kritische Soziologie« aufzufüllen, also wissenschaftstheoretische Diskussionen mit denjenigen zu führen, bei denen sie dieses Wissen vermuteten. Die zweite Gruppe verband mit der Abschaffung der Professoren und Lehrbeauftragten als Autoritäten das Bedürfnis, deren vorgegebene Themenstellungen und wissenschaftlichen Gegenstände abzuschaffen und an deren Stelle eigene Bedürfnisse nach »Organisation und Emanzipation« zu setzen. Die dritte Gruppe schließlich sah die Notwendigkeit, mit der Kritik am bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb unter Herrschaft der Ordinarien und der Diskussion anderer Wissenschaftsinhalte und -formen gleichzeitig politische Forderungen nach einem »autonomen Bereich« der Studenten zu verbinden. Aus diesen drei legitimen und notwendigen Bedürfnissen ergibt sich eine Ungleichzeitigkeit des Bewußtseins der Arbeitsgruppenteilnehmer, die notwendig zu Konflikten und Organisationsschwierigkeiten führen mußte.
Dieses erste Dilemma konstituierte mittelbar ein zweites: Die Hoffnung aller aktiv Streikenden, die Professoren (Habermas, Friedeburg und Adorno) würden den erkämpften Freiheitsspielraum der Selbstorganisation des Studiums institutionell absichern, hat sieh nicht erfüllt. Zwar haben sich diese Professoren unter dem Druck der studentischen Argumente mehr und mehr »entlarvt«, aber die Entlarvung hat keine Auswege aus der Sackgasse gezeigt, in die die Irrationalität der Professoren und der Bürokratie die Studenten gedrängt hat.
Für die Irrationalität der Professoren gibt es zwei Erklärungen, die hier angedeutet werden müssen: Eine liegt im Wesen der hier betriebenen »kritischen Soziologie« begründet. Pauschal hat die »Frankfurter Schule« gesellschaftliche Veränderungen vorwiegend festgemacht an der wissenschaftlich-aufklärerischen Reflexion des Individuums, nicht aber an der Möglichkeit der Vergesellschaftung der Produktionsmitte] allgemein und der Kollektivierung des Produktionsmittels Wissenschaft im besonderen. Zweitens projizieren diese Professoren das, was ihnen der Staat antut, auf die Studentenbewegung: das heißt, die technokratische Hochschulreform entmachtet die Ordinarien als wesentliche Herrschaftsträger feudaler Autonomie der Universität zugunsten der Eingliederung der Hochschule in die Fungibilität des autoritären Staates. Die dazu notwendigen Maßnahmen der Staatsbürokratien sollten - auf eine längere Zeitspanne verteilt - hinter dem Rücken der Studentenmassen (und eines Teils der Professoren) getroffen werden. Die Öffentlichkeit des aktiven Streiks und der Selbstorganisation der Fächer und Fakultäten haben diese langfristige Taktik zunichte gemacht und dadurch diese Maßnahmen beschleunigt. Diese Beschleunigung wird dem politisierten Teil der Studenten von diesen linken Professoren als »Faschismus-Stalinismus« vorgeworfen. Darüber hinaus erklärt es die Vorliebe dieser Professoren für den Schütte-Entwurf eines hessischen Hochschulgesetzes, denn dieser Entwurf wirft den Ordinarien eine Garantie eines winzigen Teiles ihrer ehemaligen Macht als Köder hin.
Wenn die Professoren meinen, sich mit ihrer Taktiererei gegen die Studenten vor der Entscheidung drükken zu können, ob sie mit der Bürokratie die Hochschule in ein Instrument der Unterdrückung verwandeln wollen, oder mit den Studenten den Widerstand gegen diese Unterdrückung aufnehmen wollen, so ist das eine Naivität, die, wenn nicht sie selber, so doch die spärlichen Reste ihrer »kritischen Wissenschaft« teuer zu stehen kommen kann. Die historische Analyse der Frankfurter Studentenrevolte kann die Voraussetzung einer mittel- oder langfristigen Strategie nur insoweit klären, als sie Mobilisierungs- und Bewußtseinsstand der Studenten bzw. Arbeitsgruppenteilnehmer analysiert und damit ihre Kampfbereitschaft prognostiziert.
3 PHASEN
Die aktiven Streiks für die Selbstorganisation durch die Studenten haben eine zweite Phase der Hochschulrevolte in Frankfurt eingeleitet: Die erste Phase beginnt etwa mit den ersten tendenziell sprachlosen Aktionen antiautoritärer Minderheiten, mit Go-ins, die den Angriff auf die Person des Ordinarius (einfache Ordinarienbekämpfung) als Träger und Stabilisator unterdrückender Funktionen im einseitigen Kommunikationszusammenhang Universität zum Inhalt hatten. Die erste Phase endete mit der Blockade der Societätsdruckerei, den Aktionen gegen die NS-Gesetze, der Rektoratsbesetzung, der Zerschlagung der Politischen Universität durch die Polizei.
Für diese Aktionen war charakteristisch, daß sie relativ abstrakte Ziele beinhalteten und auch relativ abstrakt legitimiert wurden. Mit den individuellen Bedürfnissen der Studenten konnten sie nicht vermittelt werden. Die studentischen Aktionen stellten sich als punktuelle, von sogenannten Anführern vorstrukturierte Aktionen dar.
Dem Beginn der zweiten Phase des aktiven Streiks für Selbstorganisation gegen technokratische Hochschulreform geht eine Zeitspanne der Frustration voraus; äußerlich verursacht durch die Verabschiedung der NS-Gesetze, angesichts der besetzenden Polizei, darüber hinaus gekennzeichnet durch Aktionslosigkeit und das Fehlen weiterführender Perspektiven der Hochschulpolitik. Die Selbstorganisation der zweiten Phase ist weiterhin nicht zu verstehen, wenn die vorausgehenden Revolten innerhalb des SDS, das zweimalige notwendige Abbrechen der DK in Frankfurt und Hannover durch die Revolte der kleinen Gruppen gegen die großen, der Genossinnen gegen die Genossen, allgemein das Zerstören sozialdemokratischer Reste innerhalb der Organisation des SDS nicht als entscheidende Voraussetzung zur Organisation der Basisgruppen gesehen werden.
Der eher von gewerkschaftlichen Forderungen gekennzeichnete Streikauslöser AfE macht in seinen Etappen doch die Absichten des Staates in bezug auf die Hochschule deutlich: hinter dem Rücken der Studenten die Reste feudaler Autonomie der Hochschule zu beseitigen zugunsten ihrer Eingliederung in die technokratischen Bedürfnisse des autoritären Staates. Aktiver Streik, Besetzung des Spartakus-Seminars und die Forderungen des Negativ-Katalogs haben die Taktik der Bürokratien insofern zunichte gemacht, als sie gezwungen wurden, ihre Maßnahmen innerhalb kürzester Zeit zu ergreifen bei voller studentischer Öffentlichkeit.
Das Go-in bei Carlo Schmid im WS 67/68 war zwar formal legitimiert; man wollte ihn öffentlich zu seiner Haltung den NS-Gesetzen gegenüber befragen, nichtsdestoweniger war es eine sprachlose Aktion. In der sprachlosen Regelverletzung liegt auf dieser Stufe der Organisation der Revolte eine gewisse Stärke: l. Die Ebene des Nur-Argumentierens wird verlassen, der einseitige akademische Kommunikationszusammenhang wird von den Unterdrückten aufgekündigt. Was heißt das für die Beteiligten? Der akademische hierarchische Kommunikationsprozeß setzt auf universitärer Ebene fort, was Sozialisationsprozeß im Elternhaus und in der Schule den Individuen eingefüttert und als bedingten Reflex immer wieder abverlangt haben: die Verhinderung spontaner Denkprozesse, das Abschneiden kollektiven Bewußtseins durch Leistungszwang und Konkurrenz. Der reaktionäre Wissenschaftsbetrieb honoriert nur das, was ihn in einem ewigen Kreislauf immer wieder bestätigt und stabilisiert: die private Aneignung von arbeitsteilig organisiertem Wissen und dessen Ausspucken auf Befehl der Ordinarien.
2. Mit dem Angriff auf den Ordinarius wird gleichzeitig mit dem bürgerlichen Sozialisationsprozeß der Individuen gebrochen. Die Kontinuität der Unterdrückung in der Linie Vater-Lehrer-Professor wird abgeschnitten.
3. Mit der gebrochenen Fixierung an den Ordinarius wird gleichzeitig die Fixierung an reaktionäre Wissenschaft wenn nicht beseitigt, so doch problematisiert.
Hier entstand ein Konfliktpotential (auch in der offenen Frontstellung zu den reaktionären Studenten), das wichtige Energien für die späteren Notstandsaktionen geliefert hat.
Allerdings waren die Akteure sehr schnell bereit, ihre sprachlose Aktion als totalen Mißerfolg zu interpretieren. Das hat zwei Gründe: einmal standen ad hoc keinerlei Erfolgskriterien zur Beurteilung dieser neuen Situation zur Verfügung, zum anderen hatte die Aktion selbst bei allen Beteiligten Aggressionen mobilisiert, die im herkömmlichen Wissenschaftsbetrieb ständig unterdrückt werden müssen. Aggressionen erzeugen Angst, Schuldgefühle und Skrupel.
FIXIERUNG AN ORDINARIEN UND »WISSENSCHAFT«
Mit dem gebrochenen Verhältnis zum Ordinarius wird das Untertanenverhältnis zur bürgerlichen Wissenschaft zwar problematisiert, aber die Richtung, wie konkret die »wissenschaftlichen Standards« abgeschafft und durch neue ersetzt werden sollen, ist damit für die Individuen noch nicht angegeben. Hinzu kommt bei den Soziologen das Fehlen fester Berufsbilder und Arbeitsmarktchancen. So bleibt nichts weiter übrig, als in unbefriedigender Weise weiterhin die Versatzstücke kritischer, linker Wissenschaft Frankfurter Prägung anzuhäufen, ohne daß dieses Wissen Perspektiven der Praxisveränderung aufzeigen könnte. Die Diskrepanz zwischen den emanzipatorischen Bedürfnissen nach praktischer Umorganisierung von Wissenschaft und dem herrschenden Lehrbetrieb selber wird offensichtlich mit der Verabschiedung einer neuen Prüfungsordnung für Soziologen, die hinter dem Rücken der Studenten die Verschulung des Studiums zementiert und Voraussetzungen für eine technokratische Trennung zwischen kurzem Grundstudium und elitärem Hauptstudium schafft.
Die Verunsicherung im Studium, im Verhältnis zu den Ordinarien, das Fehlen bürgerlicher Berufschancen auf der einen Seite, die gleichzeitige Abhängigkeit vom Lehr- und Forschungsmonopol dieser Ordinarien auf der anderen Seite haben eine Bewußtseinslage unter großen Teilen der Soziologen und Literaturwissenschaftler damals geschaffen, die dann in den ersten tendenziell sprachlosen Aktionen einer Minderheit praktischen Ausdruck findet. Diese Konfrontation schafft gleichzeitig Fronten zu dem apolitischen Teil der Studentenschaft. Arbeitsplatzinteressen und die Hoffnung auf Befriedigung emanzipatorischer (antiautoritärer) Bedürfnisse mobilisierten die Studenten zur massenhaften Teilnahme an der Springer-Blockade, aber hier wichtiger, da sie sich enger auf den Arbeitsplatz Universität beziehen, zur Teilnahme an den Aktionen gegen die NS-Gesetze: Bestreikung der Universität, Besetzung des Rektorats, Umbenennung in Karl-Marx-Universität und Gründung der Politischen Universität. In diesen Aktionen haben alle Beteiligten Solidarität und kollektive Befreiung von individuellen Zwängen ansatzweise (das heißt eher emotional) erfahren. Aber der Zwang zu abstrakten und teilweise konstruierten Legitimationen der direkten Aktionen, die von wenigen linken Theoretikern im Verlauf der Massen-Teach-ins geboten wurden, verhinderte eine Vermittlung zu den Erfahrungen der Akteure. Die Notwendigkeit des Widerstandes gegen NS-Gesetze, die Notwendigkeit des gemeinsamen Handelns mit Arbeitern wurde in Globalanalysen auf hohem theoretischem Niveau bekundet, blieb aber für die Handelnden praktisch uneinsichtig: die Analyse ging nicht ein auf die konkreten Erfahrungen der solidarischen Aktion und der Möglichkeiten zur Emanzipation in ihr.
So bleiben beide Ebenen, die der praktischen Erfahrung und die der theoretischen Analyse gesellschaftlicher Zustände für die Massen unvermittelt: hier die »Entmythologisierung« des Rektorats als symbolischer Sitz feudaler Herrschaftsprivilegien der Ordinarien Universität, dort eine akademische Gewaltdebatte. So scheiterte die Politische Universität nur äußerlich am Polizeieinsatz, sie ging zugrunde, weil sie an die Stelle rechten Wissenschaftsbetriebes einen linken setzen wollte, während eine Aufarbeitung der Erfahrungen nur möglich gewesen wäre, hätte man mit der Vorstel lung linker Wissenschaftsinhalte gleichzeitig neuer Organisationsvorstellungen dieser Inhalte verbunden.
In diesem Zusammenhang ist auch die nachfolgende Frustration und der Rückfall in apolitische Apathie nur äußerlich auf die tatsächliche Verabschiedung der NS-Gesetze und die Polizei in der Universität zurückzuführen, der Kern der Frustration liegt auch hier in der mangelnden Vermittlung zu den abstrakten politischen Notwendigkeiten des Kampfes um diese Bedürfnisse.
Die Frustration hatte mehrere weitreichende Folgen für das Bewußtsein der Studenten:
1. Sie waren nachträglich bereit, die Urteile der Ordinarien, der Universitätsbürokratie und der bürgerlichen Presse über ihre eigenen Aktionen zu akzeptieren. (Zumal auch die linken Führer die Rektoratsbesetzung und ihren bilderstürmerischen Happeningcharakter als »vorpolitisch« disqualifiziert hatten.)
2. Die Einschüchterung durch die Staatsgewalt, die Drohungen der Universitätsbürokratie auf Relegation der Beteiligten, auf Aberkennung des Seminars, das Anzeigen der »Rädelsführer« bewirkten eine erneute Stabilisierung des autoritären Hörigkeitsverhältnisses zu den Ordinarien und damit zu »Wissenschaft«, wobei jetzt noch verschärfend zu den traditionellen Leistungszwängen des Studiums der »linke« Leistungszwang hinzutrat: d.h., der politisch bewußte Teil der Studenten wollte die existentielle Bedrückung durch eine unverändert reaktionäre Studienorganisation totschlagen, durch die verstärkte Akkumulation und Konsumtion »kritischen Wissens«. Schiedsrichter in diesem weit schärferen Konkurrenzkampf um kritische Leistungen waren, zusätzlich zu den fortschrittlichen Ordinarien, die linken Führer der Revolte geworden.
(Es ist bezeichnend, daß die Ordinarien - Habermas - in dem Maße, in dem sich die Fixierung auf solche linke Theoretiker herstellte, die »Rädelsführertheorie« übernahmen: d.h., sie deuteten diese Theoretiker als diabolische Manipulatoren, die »die berechtigten Interessen der Studenten« für ihre finsteren, gegen die Wissenschaft gerichteten Zwecke mißbrauchen. Einmal hatte diese Interpretation wahrscheinlich Konkurrenzgründe - Hahnenkampf -, denn diese Theoretiker waren Abtrünnige, zum anderen waren diese Theoretiker fähig, aus ihren Fehlern zu lernen und die Gefahren ihres »Aufstiegs« zu Stabilisatoren linken Leistungszwanges und Konkurrenzkampfes zu erkennen, während die Ordinarien den Konkurrenzkampf der privaten Aneignung von akademischem Wissen immer noch als einzige der Wissenschaft angemessene Form des Lernens betrachten).
5. Beweist die Selbstverständlichkeit, mit der die Soziologen in Solidarität mit der AfE gegen technokratische Hochschulreform ihre Selbstorganisation des Studiums in Angriff nahmen, daß in der vergangenen Phase die Studenten eines deutlich gelernt hatten: daß das Bedürfnis individueller Emanzipation nur kollektiv befriedigt werden kann und daß diese Befriedigung nur durch einen langen Prozeß der Umorganisierung der Wissenschaftsinhalte und -formen selber erfolgen kann.
DIE ENTSTEHUNG VON BASISGRUPPEN
Das Bedürfnis der Emanzipation konnte in der zweiten Phase des aktiven Streiks an der Hochschule nur deshalb ansatzweise kollektiv befriedigt werden, weil in der vorangegangenen Phase der Aktionslosigkeit an der Hochschule die Organisationsstruktur des Verbandes SDS umgewälzt wurde.
Während der Kampagne gegen die Notstandsgesetzgebung hatten sich große Teile der Studentenbewegung in der Agitation der Arbeiterschaft engagiert. Das Ausbleiben unmittelbar nachprüfbarer Erfolge frustrierte auch hier einen großen Teil der Engagierten, überzeugte aber einen kleinen Teil von der Notwendigkeit, die abstrakte Analyse eines solidarischen Kampfes von Arbeitern und Studenten dadurch zu konkretisieren, daß sie nach Möglichkeiten suchten, langfristige Erfahrungen in geeignete Organisationsformen zu bringen. Es konnte sich nicht mehr darum drehen, in punktuellen Aktionen die Arbeiterschaft global als historisches Subjekt revolutionärer Veränderung anzusprechen, sondern es mußte eine Perspektive für langfristige Arbeit geschaffen werden, die es ermöglichte, die romantische Einschätzung der Arbeiterschaft zu ersetzen durch das Auffinden konkreter Konflikte am Arbeitsplatz, deren politische Auswertung eine konkrete Solidarisierung von Arbeitern und Studenten in der Zukunft ermöglichen sollte. Die Einsicht der kleinen Gruppe in die Notwendigkeit einer Basisarbeit in Betrieben ist die älteste Motivation zur Gründung einer Basisgruppe.
Die Erkenntnis, daß die Herrschenden die Bekämpfung der Studentenbewegung von der Straße in den Gerichtssaal verlegt hatten, begründete nach der Springer-Blockade die Notwendigkeit einer längerfristigen Prozeßstrategie, die der Klassenjustiz mit Solidarität begegnen sollte. Insofern war die Gründung von Basisgruppen in diesem Bereich eine existentielle Notwendigkeit der Bewegung.
WEIBERRAT
Zu den objektiven politischen Gründen der Basisgruppenbildung außerhalb der Hochschule trat eine sozialpsychologische Motivation, die sich in der Frauenrevolte innerhalb des SDS am deutlichsten zeigt - die linken Theoretiker der Hochschulrevolte hatten theoretische Globalanalysen und praktische Erfahrungen der Massen nicht miteinander vermitteln können; das heißt, sie hatten gleichzeitig wichtige Teile der politischen Diskussion okkupiert. Damit waren diejenigen politisierten Studenten, die zwar faktisch Erfahrungen gemacht hatten, sie aber nicht in Begriffen linker Literatur auszudrücken vermochten, auf die Basisgruppenarbeit außerhalb der Hochschule verwiesen. Die Frauen waren von ihrem spezifischen Sozialisationsprozeß und von ihrer doppelten Unterdrückungssituation an der Hochschule - von einem reaktionären, von männlichen Leistungskriterien bestimmten Studiengang einerseits und von den Theoretikern der Studentenbewegung andererseits - besonders betroffen. Die wahrscheinlich gattungsgeschichtlich begründete Schwierigkeit, Frauen zur Vertretung kollektiver Interessen zu organisieren, zwang die Frauen, die Kommunikationsstruktur ihres unmittelbaren Erfahrungsbereiches zu reflektieren. Sie konnten es sich nicht leisten, ihre Interessen außerhalb der Hochschule zu organisieren, sondern es war schon ein Politikum, wenn sie autoritäre Kommunikationsstrukturen innerhalb der Seminare und des SDS in bezug auf ihre eigene existentielle Situation reflektierten. Von daher erklärt es sich, daß sie andere Interessen artikulierten, als dies der Betriebs- oder der Justizbasisgruppe möglich gewesen wäre. Es war klar, daß sie eher als diese Gruppen auf die solidarische Aktion angewiesen waren, was in diesem Zusammenhang - viel unmittelbarer als bei politischer Solidarität - emanzipatorische Solidarität bedeutet, Solidarität als Rückversicherung. Die notwendige Organisationsschwäche der Frauen hat sie mehr als andere Gruppen innerhalb des SDS dazu prädestiniert, die autoritären Kommunikationsstrukturen innerhalb des Verbandes anzugreifen und ihre hemmende Funktion für die Erfahrungen der Mitglieder aufzuzeigen.
Diese hemmenden Kommunikationsstrukturen wurden auf der Delegiertenkonferenz des SDS von den Frauen am schärfsten, aber auch von anderen Gruppen angegriffen; es zeigte sich, daß diese Kommunikationsstrukturen zentrale Überbleibsel sozialdemokratischer Organisationsformen des Verbandes waren, die spätestens seit der Springer-Blockade zum stärksten Hemmschuh der Vermittlung praktischer Basiserfahrungen der Mitglieder zum abstrakten Strategie- und Organisationshorizont traditioneller sozialistischer Literatur geworden waren. Das Aufbrechen dieser Kommunikationsstrukturen und damit der Reste sozialdemokratischer Organisationsformen im Verband setzte Energien der Mitgliederbasis des SDS frei, die die Gründung von Basisgruppen auch an der Hochschule erzwangen. Inhaltlich konnte sich die Organisationsform der Basisgruppen erst während des Streiks voll entfalten.