Aus: neue kritik, Nr. 50, Oktober/November 1968,
hrg. V. BV des SDS, Frankfurt/Main Seite: 94-114

Die Entwicklung des Heidelberger SDS
seit Juni 1967


l. Zweck der Analyse

Der SDS scheint, zumindest was seine größeren Gruppen betrifft, am Ende einer bestimmten Phase zu stehen: nachdem es ihm gelang, eine erstaunlich große Anzahl von Studenten zu mobilisieren, stellt sich ihm jetzt konkret die Frage der Organisation dieser Massen; er muß praktische Möglichkeiten finden, wie diese Massen, die aus der Aktion immer wieder in die Rolle des Publikums zurückzufallen drohen, zum festen Kern einer zukünftigen breiten revolutionären Organisation werden können. Das setzt eine Aufhebung der Trennung von Freizeitpolitik und bürgerlichem Studium voraus, die nur in einer politischen Organisation am Arbeitsplatz gefunden werden kann, welche Organisationsform allein über die Universität hinaus Bestand haben kann. Die Frage der Organisation entspringt nicht theoretischer Willkür, sondern wird durch die praktische Entwicklung der Studentenbewegung gestellt. Ihre Lösung setzt die Analyse dieser Entwicklung voraus. Wurde aber gerade durch die Hinwendung zur Praxis, die Arbeit der einzelnen Gruppen zum Konstituens des Verbandes, worüber auch die zentralen Aktionen des letzten Jahres nicht hinwegtäuschen können, dann wird erst die Analyse der Arbeit dieser Gruppen eine rationale Diskussion der Organisationsfrage auf Verbandsebene ermöglichen. Es zeigt die Schwäche des Verbandes und die Gefahr des Provinzialismus der einzelnen Gruppen, daß selbst dieses Minimum an Kommunikation zwischen den einzelnen Gruppen nicht vorhanden ist, das die Kluft zwischen abstrakter Theorie und diffusen Taktiken erst durch konkrete Analyse der Studentenbewegung in strategischer Absicht zu überwinden ermöglichen würde. Sollen die lokalen Studentenrevolten nicht als Strohfeuer verflackern, dann muß der Verband seine Koordinierungsfunktion wahrnehmen, was eine analytische Selbsttätigkeit der Gruppe voraussetzt. So erweist sich die Selbstreflexion der Gruppen als praktische Notwendigkeit nicht nur für diese selbst, sondern auch für den Verband. Der wichtigste Organisationsfaktor des SDS ist seine Analyse der revolutionären Bewegung und ihrer Bedingungen, die es ihm bis Jetzt ermöglichte, auch ohne zentrale Weisungen das jeweils Richtige und nicht allzu Widersprüchliches zu tun. Durch die Provinziali-sierung der Gruppen wird selbst dieser organisierende Faktor der Analyse in Frage gestellt.

2. Sommersemester 1967; 2. Juni

Während der Tage nach dem 2. Juni 1967 war der Heidelberger SDS in innere Fraktionskämpfe verwickelt, die sich einerseits aus kontroversen Stellungnahmen zum arabisch-israelischen Konflikt, andererseits aus verschiedenen strategischen Vorstellungen ergaben. Einem opportunistischen Flügel, der auf der pro-israelischen Solidaritätswelle mitzuschwimmen gedachte und jede Praxis in akademischer Skepsis verwarf, stand eine Minderheit von Genossen gegenüber, die in der Strategie das Konzept der späteren Mehrheit der 22. DK vertraten. Der Konflikt innerhalb der Gruppe, der ironischerweise als anti-autoritärer Aufstand gegen eine Minderheit aktiver Genossen erschien, und in sozialpsychologischen Kategorien diskutiert wurde, machte es unmöglich, bestimmend in die Diskussion der Studenten nach dem 2. Juni einzugreifen. Der 2. Juni führte deshalb nicht zu einer ersten Organisation des Widerstandes, sondern wurde mit einem Schweigemarsch und mit einer pluralistischen Protestkundgebung begangen. Der liberale Protest gegen die Polizei führte nicht zu einer Solidarisierung mit dem SDS, vielmehr wurde keines von dessen Mitgliedern in ein "Aktionskomitee" gewählt, daß sich zur Aufgabe machte, den 2. Juni und dessen Niederschlag in der Presse zu untersuchen. Eine Filmvorführung der Berliner Mahler-Kommission zeigte zwar ein weiteres Mal die Erregung innerhalb der Studentenschaft, — mehr aber auch nicht. Ein Vortrag des Genossen Dutschke ließ zwar quantitativ das Potential des SDS abschätzen, dessen Mobilisierung für Aktionen gelang aber im SS 67 keineswegs. Bei der Wahl zur Delegiertenkonferenz erlitt der antiautoritäre Flügel durch den akademischen eine Niederlage. Die Wahl zum Studentenparlament brachte für die Gruppe nur einen geringen Stimmenzuwachs, obgleich sich insgesamt eine Linkstendenz abzeichnete. Der ethische Protest gegen die Polizeimaßnahmen in Berlin konnte durch den SDS weder organisiert, noch durch geeignete Aktionen politisiert werden.

Eine Happening-Aktion bei den Feierlichkeiten der Rektoratsübergabt' zeigte die Empfindlichkeit der Institution Universität; Ansätze zu einer kämpferischen Hochschulpolitik zeigte sie kaum. Im Wintersemester 67/6S erwies sich dann auch, daß eine weiterführende Politisierung der Studen ten nicht auf hochschulpolitischem Gebiet zu erreichen war, sondern lediglich über allgemein politische Protestaktionen, die zunächst aus der Universität hinausführten und auf diese nur indirekt zurückwirkten.

3. Vietnamdemonstrationen, Wintersemester 67/68

Hatte der Schweigemarsch als Antwort auf die Erschießung Benno Ohne-sorgs alles andere als aggressive Züge, so wurde er für den SPD-Oberbürgermeister Zundel doch zum Anlaß, ein generelles Demonstrationsverbot für die Hauptstraße zu erlassen. Aus verkehrstechnischen Gründen sollten in Zukunft nur noch abgelegene Straßen für "studentische Demonstrationszüge" erlaubt sein. Eine Vietnam-Demonstration des SDS durch die Hauptstraße Anfang November wurde verboten. Der Schuß ging freilich arg nach hinten los. Die ca. 200 Demonstranten beschlossen nach Diskussion und Abstimmung die Demonstration wie geplant durchzuführen und zogen durch die Hauptstraße zum Amerikahaus. Eine mäßig vorbereitete Polizei, die sich zur Kette formiert hatte, wurde umgangen, danach der Balkon des Amerikahauses besetzt, ohne daß die Polizei eingriff. Nach einem teach-in, in dem u. a. die Übernahme des Amerikahauses durch die Studenten gefordert wurde, löste sich die Demonstration auf. Eine spätere Demonstration gegen das Kurras-Urteil richtete sich dann schon direkt gegen die Stadtverwaltung und stellte den OB nach Umgehung einer Polizeikette vor dem Rathaus zur Rede. Dieser gab sich liberal und versprach den Demonstranten, in einem teach-in das Demonstrationsverbot zu diskutieren. Die Anzeigen gegen zwei "rädels-führende" Genossen wurden freilich aufrechterhalten. Die 800 Studenten, die an dem späteren teach-in mit OB Zundell im Dezember teilnahmen, verabschiedeten eine Resolution gegen diese Strafanzeigen und forderten den halblinken AStA auf, Kampfmaßnahmen gegen das Demonstrationsverbot einzuleiten. Eine Mehrzahl der überhaupt politisierten Studenten war also zu diesem Zeitpunkt bereit, eine aktive Minderheit wenigstens dann zu unterstützen, wenn diese den Pressionen einer Stadtverwaltung ausgesetzt war, die sich mit deren liberalem Gerede und dem eigenen Vertrauen in die Verfassung nicht vertrugen. Der mehr oder weniger abstrakte Charakter der Vietnam-Demonstrationen blieb dennoch bestehen und dies im Grunde auch noch dann, als die Demonstrationen offensiver wurden und in einem Fall zur Konfrontation mit der deutschen Polizei und der amerikanischen MP führten. Gerade die Abstraktheit des Engagements und die Tatsache, daß der SDS die einzige Organisation war, die solche Protestaktionen durchführte und in ihrer Auseinandersetzung mit der Stadtverwaltung eine Position hatte, die durch die Verfassung legitimiert war, führte zu etlichen Neueintritten von

Genossen, die zunächst vor allem moralisch oder radikaldemokratisch motiviert waren. Die kleinen Ansätze von politischer Praxis führten andererseits dazu, daß die akademische Fraktion innerhalb des SDS sich zunehmend zurückzog oder auf ihre bisherigen Vorbehalte verzichtete. Ober einen kontinuierlichen Zuwachs der Mitglieder hinaus hatte diese Phase organisatorisch kaum Bedeutung: einerseits erwuchs aus den Erfahrungen der Demonstrationen eine gewisse Solidarität innerhalb der Gruppe, die durch politische Differenzen kaum getrübt wurde, andererseits konnte diese Solidarität ohne konkretes Kampfziel und — trotz der bürokratischen Schikanen der Stadtverwaltung — ohne eigentlichen Widerstand kaum zur Grundlage einer revolutionären Organisation werden. Die notwendige Agitations- und Vorbereitungsarbeit wurde von einzelnen Genossen geleistet, die Selbsttätigkeit der Gruppe bestand in regelmäßiger Teilnahme an teach-ins, Demonstrationen und in privater Lektüre. Der nach der DK eingerichtete Springer-Arbeitskreis traf sich zwar immer wieder, doch blieb seine Tätigkeit sowohl der Gruppe als auch der Studentenschaft völlig disparat. Die Vorbereitung der beschlossenen Anti-Springer Aktionen beschränkte sich auf den Plan einer allgemeinen Aufklärungskampagne, zu der es jedoch nicht kam. Reformistische und bloß gewerkschaftliche Tendenzen konnten damals schon deshalb nicht auftreten, weil es eine kontinuierliche Hochschulpolitik des SDS nicht gab und weil die Aktionen im luftleeren Raum blieben. Die politischen Studenten, auf Grund der spezifischen Bedingungen an der Universität gegenüber "unmenschlichen Auswüchsen" des Imperialismus sensibel, reagierten als Staatsbürger. Der Druck und die Frustration, die sie an der Universität erfuhren, trieb sie aus dieser heraus zum ethischen Engagement für das kämpfende vietnamesische Volk Eine Vermittlung dieses Engagements mit der eigenen Lage an der Universität gelang schon deshalb nicht, weil die Universität diesen Protest nicht zur Kenntnis nahm. Sie bestand bestenfalls in einem vagen antikapitalistischen Gefühl, das durch allgemeine Hinweise auf die klassische Imperialismustheorie kaum zu praktischer Perspektive finden könnte. Für den SDS ergab sich daraus die Notwendigkeit, auch von ihm nur abstrakt gewußte, nicht aber praktisch vermittelte Zusammenhänge durch exemplarische Aktionen aufzuzeigen und damit erst konkrete Angriffspunkte herauszufinden.

4. Stadthallenaktion

Im Januar 1968 ergab sich die Möglichkeit zu einer Aktion, die über den bloßen Protest vor den verschlossenen Türen des Amerikahauses hinausging und die Verschleierungspraktiken der Bourgeoisie gegenüber der Ausbeutung der Länder der Dritten Welt direkt angriff. Der SDS plante, das exotisch aufgemachte Tanzfest, das das Auslandsamt alljährlich veranstaltet, seines beschaulischen Charakters zu entkleiden und den dort gaffenden Bürokraten und Kulturphilistern ihre verlogene Solidarität mit den ausländischen Kommilitonen zu verleiden. Die Aktion wurde durch mehrere Flugblätter, die die Funktion des Festes und die Kontrollaufgaben des Ausländeramtes denunzierten, vorbereitet und mit ausländischen Genossen abgesprochen. Es gelang dann zwar im Wesentlichen nur, die Veranstaltung zu stören, ohne daß im Saal selbst eine Diskussion hätte erzwungen werden können. Doch wurde mit später in die Vorhalle nachkommenden Kommilitonen ein teach-in über die Aktion abgehalten, das eine längere Kampagne gegen das Auslandsamt einleitete und die Selbstorganisation der progressiven Ausländer initiierte. Einer derselben erklärte sich als Sprecher der indischen Gruppe im Saal selbst mit unserer Aktion solidarisch und nahm damit den dort Versammelten das angenehme Gefühl, das Ganze als Exzeß einer isolierten Minderheit abtun zu können. Die Gruppe brachte diese Aktion insofern ein Stück weiter, als sie hier erstmals dem eigenen Universitäts- und Stadtetablissement unmittelbar in der Aktion gegenüber stand, und sie gleichzeitig gezwungen wurde, ihre spektakuläre Aktion in späteren teach-ins und Flugblättern zu rechtfertigen. Sie gewann Vertrauen in ihre eigene Argumentation und überwand die rein verbale Solidarisierung mit den Befreiungsbewegungen der Dritten Welt in Zusammenarbeit mit sozialistischen Ausländern und im Angriff auf die Universitäts- und Stadtbürokratie (Auslandsamt), die aus der Abhängigkeit der ausländischen Kommilitonen ein Fest der eigenen Gönnerhaftigkeit machen wollte.

5. Hochschulpolitik

Wie wenig die Vermittlung zwischen allgemeiner Politik und Hochschulpolitik gelungen war, zeigte sich bei dem von dem AStA ausgerufenen Hochschulstreik gegen den bevorstehenden Erlaß des baden-württembergischen Hochschulgesetzes. Obwohl diesem ein go-in des SDS bei einer "vorläufigen Grundordnungskommission" vorausgegangen war, und der Streik in der Woche der Pressionsversuche gegen den Vietnam-Kongreß in Berlin stattfand, gelang es nur unter dem Protest der Mehrheit der Studenten, das reaktionäre Hochschulgesetz in einem gesellschaftlichen Zusammenhang zu diskutieren. Die durch unsere allgemein politischen Aktionen mobilisierten Studenten nahmen offensichtlich an diesem vielstündigen teach-in nicht teil und die anwesenden Studenten, auf nur gewerkschaftliche Themen fixiert, die sie entweder technizistisdi oder abstrakt abgehandelt wissen wollten, waren jeder "Ideologie" entschieden abhold. Gleichwohl wurde eine relativ scharfe Resolution, die jedem Hochschulgesetz ohne Drittelparität und Öffentlichkeit für alle Gremien die Zustimmung versagte, angenommen. Ein Aktionskomitee zur Vorbereitung einer zentralen Demonstration vor dem Stuttgarter Landtag wurde gewählt in dem alle SDS-Kandidaten vertreten waren. Das teach-in, in dem der SDS durch scheinradikale Forderungen des LSD und einzelner Studenten überboten wurde, glaubte offensichtlich keineswegs an die Möglichkeit der Durchsetzung seiner Resolution und war doch zu einer Analyse dieser Aussichtlosigkeit nicht zu bewegen. Darin zeigte sich einerseits das Mißtrauen gegenüber der parlamentarischen Institution des Landtags, andererseits aber die feste Entschlossenheit, an deren Legitimität nicht zu rütteln. Entsprechend gering war die Beteiligung an der Stuttgarter Demonstration, die übrigens denselben ambivalenten Charakter zeigte. Zudem waren die Forderungen des SDS (Drittelparität, Öffentlichkeit) so abstrakt, daß sie von allen Studenten gestützt, aber von niemandem wirklich erkämpft wurden, lagen sie doch auf derselben bürokratischen Ebene wie das Gesetz selbst. Gerade das gewerkschaftliche Interesse der Studenten war auf dieser Ebene nicht wirklich mobilisierbar, weil der Druck offensichtlich sehr viel konkreter im Charakter der Lehrveranstaltungen, des Studienganges und der Prüfungsbedingungen empfunden wird, die weder durch das Gesetz noch durch unsere Forderungen berührt wurden. Der Gruppe selbst, die sich über allgemein politische Auseinandersetzungen konsolidiert hatte, fehlte jede hochschulpolitische Praxis und Erfahrung. Sie konnte deshalb auch keine Strategie zur Diskussion stellen, die sich anders als durch ihre abstrakte Halsstarrigkeit von der der übrigen Hochschulgruppen unterschieden hätte. Der hochschulpolitische Konflikt stellte sich dar als Konflikt mit dem Gesetzgeber, der Protest gegen die Ordinarienuniversität hatte nicht zur Auseinandersetzung in der Universität geführt, wo allein er hätte konkret werden können.

Um so fragwürdiger war unter diesen Bedingungen der Beschluß der Gruppe, für den AStA-Vorsitz zu kandidieren, über dessen strategischen Stellenwert keinerlei bestimmte Vorstellungen bestanden, und der zudem immer in dem Dilemma stehen mußte, dem Anspruch nach alle Studenten zu vertreten, obwohl nur eine Minderheit hinter dem SDS stand.

6. Eingriff in den baden-württembergischen Wahlkampf

Der Kampf gegen das Hochschulgesetz, das unmittelbar vor Semesterende erlassen wurde, ging direkt in die "Beteiligung" des SDS am Wahlkampf über - trat doch der nominelle Hauptverantwortliche für dieses Gesetz, Kultusminister Hahn, als Kandidat der CDU für Heidelberg auf. Diese Tatsache erleichterte die Mobilisierung der Studenten; entscheidend für den Beschluß der Gruppe, in den Wahlkampf einzugreifen, war sie jedoch nicht; dieser wurde durch die Absicht begründet, einerseits eine Parlamentarismusdiskussion unter den mobilisierten Studenten in Gang zu bringen und andererseits die bestehenden Parteien durch Konfrontation mit inhaltlicher Argumentation zu entlarven. Während die Wahlveranstaltungen der CDU durch massiven Angriff von vornherein unterbrochen und in teach-ins umfunktioniert wurden, in denen sich Hahn den Argumenten der Studenten stellen mußte, wurde in SPD-Veranstaltungen lediglich die Diskussion nach jeweils kurzen Einleitungsreferaten erzwungen. Höhepunkte waren die Angriffe auf Wehner, H. Schmidt und Kiesinger (letzterer schon nach den Osteraktionen). An diesem auf Entlarvung abgestellten Wahlkampf, der durchaus Aktionscharakter hatte und sehr große Studentenmassen mobilisierte, beteiligten sich vor allem auch Schüler. Zudem wurde versucht, über Flugblätter die Diskussion in die Betriebe zu tragen (Anfänge der Basis-Gruppe; vgl. Eberhard Becker). In teach-ins mit relativ großer Beteiligung in der Universität kam die Parlamentarismus-Debatte in Gang, die gerade für die Studenten, die sich weitgehend an Überbauphänomenen orientieren (wie z. B. Verfassung), einen wichtigen strategischen Stellenwert hat. Die Kritik der parlamentarischen Demokratie, die für die Gruppe eine theoretische Auseinandersetzung mit dem organisierten Kapitalismus voraussetzte, initiierte den Umschlag radikaldemokratischer in sozialistische Opposition. Die Demokratische Linke wurde im Laufe dieses Wahlkampfes von uns theoretisch kritisiert (später vor allem wegen ihrer zwielichtigen Haltung zu den Osteraktionen), doch ergab sich bei gelegentlichen Aktionen eine gewisse Zusammenarbeit. Die Absicht der DL beschränkte sich freilich auf das kurzfristige Interesse, die Studentenbewegung für ihren Stimmenfang einzusetzen und unsere Kritik am parlamentarischen System in Studentenstimmen für die DL umzumünzen. Dabei zeigten sich innerhalb der DL selbst Widersprüche derart, daß die Hauptsprecher ihren Kotau vor der bürgerlichen Demokratie machten, während andere die Wahlbeteiligung lediglich taktisch begründeten. Der Eingriff in den Wahlkampf brachte gegenüber den Vietnamaktionen vor allem theoretisch eine neue Qualität, bloß ethisches Engagement reichte zur Begründung dieser Aktionen nicht aus; die Konfrontation mit der repressiven Gesellschaft und deren ideologischer Idiotie wurde direkter; die Gruppe war zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Parlamentarismus gezwungen. Diese Auseinandersetzung hatte große Bedeutung für den Selbstaufklärungsprozeß des SDS und der studentischen Linken überhaupt. Der Angriff auf eine hervorragende ideologische Bastion der bürgerlichen Gesellschaft führt innerhalb der Linken zu einer gewissen Differenzierung zwischen Reformern, Parlamentariern und "Antiparlamentariern". Im SDS selbst freilich meldeten sich bloß letztere zu "Wort, so daß der Eindruck entstehen konnte, als hätte er solche strategischen Differenzen für sich selbst überwunden. Die Auseinandersetzung mit der bestehenden Gesellschaft war immerhin noch von solcher Abstraktheit, daß sich das vorwiegend emotionelle Zusammengehörigkeitsgefühl nicht in strategische Gegensätze aufspaltete. Eine DL-Fraktion bildete sich nicht einmal in Ansätzen. Der SDS zeigte sich technisch den bestehenden Parteien durchaus gewachsen, was die Möglichkeiten der Massenmobilisierung betraf, weit überlegen. In der subversiven Kennzeichnung der Wahlplakate zeigte sich eine erstaunliche Selbsttätigkeit. Die Aktionen veränderten den SDS organisatorisch jedoch nur unwesentlich, insofern sie ihn auf ein besseres technisches Niveau hoben. Ansonsten reproduzierte er durchaus die hierarchische Struktur der bestehenden Parteien, insofern deren Matadoren eine kleine Anzahl SDS-Kombattanten entgegentrat, für die die übrigen nur die Geräuschkulisse abgaben. Langfristig zeigte sich aber, daß der SDS und die von ihm mobilisierten Studenten, von der Presse zweideutig als neuer lokalpolitischer Machtfaktor begrüßt, die Gefahr vermeiden konnten, den Wahlkampf im Sinne des politischen Konsums lediglich wiederzubeleben. Ansetzend an dem formaldemokratischen Bewußtsein der Studenten, erwies sich die Beteiligung des SDS am Wahlkampf als außerordentlich mobilisierend und zwar gerade deshalb, weil der SDS explizit als Kritiker dieses Bewußtseins auftrat und den Wahlakt entmythologisierte, statt ihn durch eine Wahlalternative hochzujubeln. Im Wahlkampf gelang es zumindest ansatzweise die verschiedenen Einpunktbewegungen zusammen zu fassen und deren reformerische Tendenz zu überwinden. Erfolgskriterium für den Eingriff des SDS in den Wahlkampf war die starke Beteiligung von Heidelberger Studenten und Schülern an den Esslinger Aktionen, die eine wenigstens momentan hergestellte politische Öffentlichkeit zur Voraussetzung hatten, wie sie der Wahlkampf unter Studenten und Schülern hergestellt hatte.

7. Zeichnung der NPD-Plakate

Einen wesentlich anderen Charakter als die Eingriffe in die Wahlveranstaltungen der großen Parteien (massive und massenhafte Unterbrechung, individuelle Diskussionsbeiträge mit akustischer Unterstützung durch die mobilisierten Studenten), hatte eine Aktion gegen die NPD und die Stadtverwaltung. An sich hatte die Gruppe beabsichtigt, die NPD rechts-außen werkeln zu lassen, um den verlogenen Antifaschismus der großen Parteien nicht zu decken, die sich an der NPD reiben, um von dem Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Faschismus abzulenken. Auch sollte das pseudodemokratische Synchron ("Wir sind gegen jeden Radikalismus, gleichgültig ob von links oder von rechts", rot-braun) nicht durch handgreifliche Auseinandersetzungen, zu denen es ohne Zweifel gekommen wäre, verstärkt werden, was objektiv die "Ordnungsparteien"' und die Tendenz der Entpolitisierung der Massen gestützt hätte. Im Laufe des Wahlkampfes wurden dann jedoch unorganisierte Schüler und Studenten, die NPD-Plakate mit Hakenkreuzen versehen hatten und 3 Genossen, die gemeinsam mit der Polizei NPD-Plakate abnehmen wollten, verhaftet und mehrere Stunden im Gefängnis festgehalten. Die NPD hatte die ganze Innenstadt mit rot-weißen Plakaten gepflastert, die die Polizei, nachdem sie von Schülern und Studenten gezeichnet waren, nächstens schleunigst entfernen wollte, um der Bevölkerung den aufklärenden Anblick zu ersparen. Bei dieser Säuberungsaktion waren drei Genossen, die sich an ihr beteiligen wollten, festgenommen worden. Die nächtlichen Ereignisse boten Gelegenheit, durch eine exemplarische Aktion den Bedingungszusammenhang zwischen formaler Bürokratendemokratie und Faschismus aufzuzeigen. Der SDS rief zu einem teach-in auf, in dem ca. 300 Studenten beschlossen, sofort zu Zeichnung der noch reichlich vorhandenen NPD-Plakate überzugehen: öffentlich, massenhaft und bei vollem Tageslicht, Selbstverständlich machte die Polizei es sich zur Aufgabe, die NPD-Plakate zu schützen. Die Aktion verlief jedoch ausgesprochen diszipliniert, solidarisch und selbsttätig, so daß es erstmals in Heidelberg zu Gefangenenbefreiung kam und die Polizei alsbald aufs zusehen sich beschränken mußte, um sich später mit Anzeigen gegen die "Rädelsführer" zu rächen, was gerade dieser Aktion besonders unangemessen war. Die Bevölkerung verhielt sich passiv, nur in seltenen Fällen aggressiv. Von den Arbeitern in den Betrieben wurde die Aktion verstanden, zumal sie Formen kämpferischer, subversiver Wahlkampfführung der Arbeiterbewegung wieder aufnahm. Die Aktion war durch die Selbstorganisierung der Agierenden gekennzeichnet, die dann auch die erste Esslinger Springerblockade auszeichnete. Die Reaktion der Presse zeigte, daß die Aktion eine empfindliche Stelle im allgemeinen Manipulationszusammenhang getroffen hatte: der antifaschistische Inhalt der Aktion wurde gebilligt; ihre Form aber entschieden abgelehnt, was einen Kardinalwiderspruch der bürgerlichen Demokratie enthüllte: antidemokratische Inhalte werden toleriert, sofern die formalen Spielregeln eingehalten werden, demokratische Inhalte aber werden verfolgt, sobald ihre Verwirklichung die Durchbrechung der Spielregeln zur Voraussetzung hat. Diesen Widerspruch hatten die Studenten und Schüler verstanden und sie zeigten dies auch später den etablierten Parteispitzen, deren verlogenen Antifaschismus denunzierten.

8. Osterunruhen

'Zum Zeitpunkt des Attentats auf Rudi Dutschke herrschte in der Heidelberger SDS-Gruppe und Studenten- und Schülerschaft alles andere denn politische Ferienstimmung. Der Fortschritt in der politischen Mobilisierung zeigte sich noch am Abend des Attentats, als spontan Dutzende von Studenten auf dem AStA zusammenkamen, Flugblätter und Aktionen diskutierten, Flugblattkolonnen organisierten und Diskussionsbeiträge für ein teach-in auf dem Uniplatz inhaltlich vorbereiteten. Gleichzeitig wurde mit den anderen SDS-Gruppen Kontakt aufgenommen, um die Esslinger Blockade zu organisieren. Karfreitag wurde vor den Kirchen agitiert, das teach-in auf dem Uniplatz durchgeführt und die Fahrt nach Esslingen vorbereitet. Die Blockade vor dem Esslinger Bechtlehaus wurde unter Beteiligung von mehr als hundert aktiven Heidelberger Studenten hervorragend durchgeführt und erst am Morgen nach politischer Diskussion aufgehoben. Die spontane Kampfbereitschaft der Studenten, ihre Organisationsfähigkeit und ihre Solidarität, war durch Abwiegler und Wasserwerfer nicht zu besiegen.

Während der Ostertage wurde permanent diskutiert. Nachdem unter den Genossen und beteiligten Kommilitonen zunächst Einigung erzielt worden war, daß eine Wiederholung der Esslinger Aktion sinnlos sei, wurde diese zentral geplante Aktion doch unterstützt und durchzuführen versucht. Hier zeigte sich die mangelnde Organisation des SDS auf regionaler Ebene. Nachdem man in Stuttgart ein schlechtes teach-in durchgeführt hatte, das zu keinerlei organisatorischen Ergebnissen führte und mit einer überstürzten Fahrt nach Eßlingen endete, die zur völligen Reprivatisierung und Desorientierung der Demonstranten führte, war jede Möglichkeit zur kollektiven Aktion schon im Ansatz zerstört. Dem riesigen Polizeiapparat, der das Bechtlehaus und alle Zufahrtsstraßen hermetisch abgeschlossen hatte, standen die Demonstranten vereinzelt, an verschiedenen Punkten, meist in menschenleeren Gebieten, oft sogar ohne Megaphon machtlos gegenüber. Es kam zu mehr oder weniger disfunktionalen Sitzstreiks und zu Wasserspielen. Der Zweck der Aktion wurde immer unklarer. Anwesende Rockers und Junge Arbeiter wurden diffamiert und konnten in die Aktion nicht einbezogen werden. Abwiegler hatten leichtes Spiel und schienen die Vernunft auf ihrer Seite zu haben. Ein Versuch im Esslinger Stadtgefängnis festgehaltene Demonstranten zu befreien, wurde völlig disparat, unorganisiert und ohne Benachrichtigung des Gros der Demonstranten durchgeführt. Er scheiterte kläglich. Ein kurzes teach-in auf dem Esslinger Marktplatz führte zu keiner Selbstkritik, sondern nur zu einer Beschreibung der Notstandsvorbereitungen des Staates, die das eigene Versagen und die Phantasielosigkeit vor dem Polizeiapparat vertuschen sollte.

In einem großen teach-in in Heidelberg, das durch eine .Gegenzeitung' und Flugblätter vorbereitet war, konnte der Stau von Emotionen bei den inzwischen aus den Ferien zurückgekehrten Studenten, der sich aggressiv gegen den SDS entlud, nach und nach aufgelöst werden, doch konnte die Gefahr, daß auch die mobilisierten Studenten in Resignation und abstrakten Pazifismus zurückfielen, durch Hinweise auf die Legitimität revolutionärer Gegengewalt nicht einfach überwunden werden, war doch durch die spezifischen Umstände der Esslinger Aktionen (Kleinstadt, keine Möglichkeit die Arbeiter für die Aktionen zu mobilisieren) der Durchbruch zu den Jung- und Gastarbeitern, zu dem es in Frankfurt, Hamburg und München und Berlin gekommen war, nicht gelungen, so daß jede revolutionäre Interpretation höchst abstrakt bleiben mußte. Die Osteraktionen stellten sich vielfach als einmaliger Ausbruch dar, dessen negative Folgen eine Unterwerfung unter die bestehende Ordnung und die Rückkehr zu bloßer Aufklärung nahezulegen schienen. Dennoch hatte sich während der Osteraktionen ein fester Kern herausgebildet, der über den SDS hinausging, und der in Zukunft Avantgardefunktion übernehmen konnte.

8. Hochschulpolitik

Hochschulpolitik und allgemeine Politik war in Heidelberg lange Zeit lediglich durch die jeweilige Avantgardefunktion des SDS vermittelt, wobei diese sich in der Hochschulpolitik fast nur verbal und in gelegentlicher Kritik am halblinken AStA zeigte. Mitte März hatte der neue AStA, in dem der SDS den ersten Vorsitzenden und zweiten Referenten stellte, sein Amt angetreten. Von vorn herein ergab sich, auch durch die Absorption des SDS in allgemein politische Aktionen bedingt, eine Art Arbeitsteilung zwischen AStA und Gruppe, die die eigentliche strategische Misere — mangelnde Vermittlung von allgemein politischer — und hochschulpolitischer Aktion — bloß reproduzierte.

Dies zeigte sich jedoch erst kurz vor Semesteranfang. Zunächst hatten AStA, SDS und linke Studenten durch eine Belagerung des Senats den heimlichen Erlaß einer Disziplinarordnung verhindert. Als der Senat eine gemeinsame Kommission zur Aufstellung einer Disziplinarordnung vorschlug, lehnten die Teilnehmer des go-in entsprechend ihrer grundsätzlichen Ablehnung Jeder DO, diesen Vorschlag ab und verwiesen die Professoren an eine zu Semesterbeginn vom AStA einzuberufende Vollversammlung. Dennoch sandte der AStA Beobachter in eine vom Senat gebildete Kommission die über ihren Auftrag hinaus auch noch in die Detaildiskussion der DO eintraten. Die Gruppe erfuhr dies erst später. Kurz vor Ostern beschloß eine Regionalkonferenz den Boykott der im Rahmen des Hochschulgesetzes zu bildenden "Grundordnungsversammlung" die weder drittelparitätisch besetzt war, noch öffentlich tagen mußte und zudem nur noch über sekundäre Fragen zu entscheiden hatte. Nachtäglich stellte sich heraus, daß der AStA schon eine andere Strategie beschlossen und diese auch im VDS durchgesetzt hatte. In der Folge kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Gruppe und AStA-Mit-gliedern, deren eigentlicher Kern die Frage war, ob der AStA als Repräsentationsorgan der gesamten Studentenschaft zu verstehen sei oder ob er von uns als Hebel zur Politisierung der Studenten eingesetzt werden solle, auch auf das Risiko hin, daß er alsbald abgesetzt würde. Die Mehrheit war der Auffassung, daß in einer hochschulpolitisch ohnehin verfahrenen Situation mit der Taktiererei Schluß gemacht werden müsse und der AStA sich bewußt als Instrument der Minderheit der politischen Studenten verstehen müsse, die nur durch eine offene Konfliktpolitik, die mit Aktionen vorangetrieben würde, zur relevanten Mehrheit werden könne. Immerhin kam es jetzt in der Gruppe zu einer intensiven Hochschulpolitischen Diskussion und zu verstärkter Kontrolle des AStA. Die ser vertrat allgemeinpolitisch durchaus die Linie des SDS und führte zusammen mit diesem die Desertionskampagne durch, welche vom Studentenparlament nur toleriert, aber nicht unterstützt wurde, schwankte aber hochschulpolitisch unter ständigem Hinweis auf eine unpolitische Studentenschaft zwischen Opportunismus und Putschismus hin und her. Schlecht vorbereitete go-ins endeten regelmäßig vor der verschlossenen Tür des Rektorengebäudes, während man sich gleichzeitig darauf vorbereitete, sich mit denselben Professoren in der Grundordnungsversammlung an einen Tisch zu setzen, um — wie man plante — eine "Grundsatzdiskussion" über Hochschulreform herbeizuführen, die doch nach Erlaß des Hochschulgesetzes vollkommen folgenlos bleiben mußte und den Professoren den bequemen Ausweg der "Unzuständigkeit" geboten hätte.

Demgegenüber sah die Gruppe in einem aktiven Boykott der GO-Wahlen mit gleichzeitiger Vorbereitung eines go-ins in die erste Sitzung der GOV den einzigen Weg, dem abstrakt vorhandenen Konflikt mit der Universitätsbürokratie zu konkretisieren und so den Kampf gegen das Hochschulgesetz dort aufzunehmen, wo er von den Studenten selbst geführt -werden konnte: an der Hochschule. Diese Politik konnte nur die einer Aktiven Minderheit sein, die in konkreter Auseinandersetzung mit der Hochschulbürokratie zur Mehrheit werden sollte. Das geplante Lehrstück des AStA in der GOV dagegen war durch den immanenten Widerspruch Jeder zentristischen Politik gekennzeichnet: die agierenden Studentenvertreter wollten dort jenen, die "noch nicht so weit" waren, zeigen, daß nichts zu erreichen sei, indem sie doch das Reingehen nur durch seine Effizienz den Wählern als sinnvoll darstellen konnten. Die Meinung, einseitig alle vertreten zu müssen und doch die meisten für ziemlich zurückgebliebene Trottel zu halten, die Massen dadurch aufklären zu wollen, daß man sie für vorläufig unmündig hält, reduzierte die Studentenbewegung auf eine heruntergekommene Gewerkschaftsorganisation, deren Funktionäre ähnlich argumentieren. Daß eine solche Strategie mit der Apathie der Massen ihre eigenen Bedingungen erst schafft, auf die sie sich immer schon beruft, war, weil eine breite hochschulpolitische Mobilisierung der Studenten fehlte, dem AStA gegenüber immer zu behaupten, aber zunächst nicht zu belegen. Der linke AStA war durch die parlamentarische Konstruktion der studentischen Selbstverwaltung möglich geworden, denn er wurde von keiner aktiven Mehrheit getragen: was Wunder, daß er sich bald nur noch dem Parlament und nicht mehr einer bestimmten Strategie verpflichtet fühlte. Das Ziel blieb gleichwohl, eine Massenbasis zu gewinnen, nun aber nicht mehr durch das Vertrauen in die Massen, sondern durch die eigene taktische Schläue, in der die Studenten als zu bewegende, nie aber als sich bewegende Größe vorkamen.

10. Notstandsaktionen (Anmerkung v. red. Trend, fehlerhafte Numerierung i. Original)

Vermittlung von allgemeiner- und Hochschulpolitik
Die Präambel der Hochschulresolution der 22. D. K. blieb für die Heidelberger Situation zunächst also frommer Wunsch: "Aus dem abstrakt gesetzten Widerspruch zwischen dem SDS als Studentenorganisation und dem SDS als sozialistischer Organiation wurden häufig die Tätigkeit an der Hochschule und die Tätigkeit außerhalb der Hochschule als alternative Vorgehensweisen hergeleitet. Diese falsche Alternative praktisch aufzuheben muß das Ziel einer sozialistischen Hochchul-politik sein."

Doch setzte sich die allgemeinpolitische Strategie der Gruppe, die provokativ und offensiv den Apparat angriff um politisches Bewußtsein zu ermöglichen, gegen die opportunistische Tendenz, die vom AStA an der Hochschule vertreten wurde, durch. Der AStA erwies sich objektiv als der Hebel, um diese falsche Alternative aufzuheben, weil seine allgemeine Politik ab einem bestimmten Punkt vom Rektorat nicht mehr toleriert werden konnte und zur Suspendierung führte, was dann sehr schnell die Augen öffnete über den Zusammenhang der beiden Seiten unserer Tätigkeit, den wir bloß gewußt hatten aber nicht praktisch herstellen konnten.

Neben dem Kampf gegen das Hochschulgesetz, der zunächst rein verbal geführt wurde und über abstrakte Prinzipienfestigkeit nicht hinauskam bestimmte der Kampf gegen die Notstandsgesetze die Agitation und Aktion des SDS im Sommersemester 1968. Wie immer in allgemeinpolitischen Fragen arbeiteten SDS und AStA hier zunächst hervorragend zusammen. Der Sternmarsch nach Bonn vom 11. Mai wurde beiderseits nur halbherzig propagiert, weil wir nach der Demonstration vor dem Landtag sehr skeptisch geworden waren, gegenüber solchen Aktionen, die noch im Angriff den Parlamentarismus bestätigen, und deren voraussehbares Scheitern sich nicht organisatorisch wenden läßt, sondern zur perspektivlosen Resignation zu führen droht. Die Objektlosigkeit war ein weiterer Einwand gegen den Sternmarsch, der überhaupt eher Ausdruck des Parlamentarismus war als Ansatz zu dessen Umsturz. Der Angriff auf Gesetze muß an deren Basis ansetzen und die Forderung nach Generalstreik bringt man nicht in Bonn vor. Die optimistische Propaganda des Notstandskuratoriums (alle noch einmal zusammen) konnten wir nicht übernehmen:

wenn aber die Gesetze nicht mehr verhindert werden konnten, mußten solche Aktionen zu Schattenspielen werden. Für den Tag der 2. Lesung riefen AStA und SDS den Streik aus, den sie durch go-ins in den Hauptgebäuden auch weiterhin durchsetzten. Die Hochschulbürokratie versuchte dem Ganzen die Spitze zu brechen, indem sie ihrerseits ab 11 Uhr den Lehrbetrieb aussetze und eine "Informations Veranstaltung" ankündigte, in der 4 Juristenprofessoren die Studenten über die guten Absichten der Regierung aufklären und den Protest der Studenten durch "wissenschaftliche* Spiegelfechtereien relativieren und in anschließender "sachlicher" Diskussion kanalisieren sollten. Diese Konterveranstaltung des Rektorats führte zunächst zur Spaltung der Studenten. Die Mehrzahl nahm an einem Teach-in im Innenhof der Universität teil, das SDS und AStA einberufen hatten; eine beträchtliche Minderheit mochte selbst in dieser Situation nicht auf das Gespräch mit den Professoren verzichten. Später wurde die Konterveranstaltung der Professoren, die sich inzwischen auch wissenschaftlich disqualifiziert hatten, gesprengt und aufgelöst. Die Illusion einer Einheitsfront aller Universitätsangehörigen gegen die Notstandsgesetze, war damit endgültig zerstört. War der Klassencharakter der Notstandsgesetze analysiert, dann kam unter diesen Umständen der Slogan vom "Klassenkampf an der Universität" auf seinen sozialistischen Begriff, insofern sich zeigte, daß der Riß nicht zwischen Lehrenden und Lernenden verlief, sondern zwischen Lehrenden und Lernenden einerseits und oppositionellen Studenten andererseits. Nachmittags wurde eine Demonstration zum Rathaus unternommen, die zur neuerlichen Selbstenthüllung des Oberbürgermeisters führte. Die Demonstration (ca. 400 Teilnehmer) die zunehmend offensiver wurde und der sich auch junge Arbeiter und Angestellte anschlössen zog dann von Flugblattverteilern begleitet durch die Hauptstraße ins Gewerkschaftshaus das die Funktionäre freilich schon zum größten Teil verlassen hatten. Mit dem Vorstand der Junggewerkschaftler wurde jedoch ein Abkommen über Zusammenarbeit in Aktionen bei der 3. Lesung geschlossen.

Eine vorübergehende Aktionseinheit mit den Junggewerkschaftern hatte sich schon am l. Mai gebildet, als diese zusammen mit uns den Saal verließen, um gegen die Diskriminierung spanischer Arbeiter und der Studenten zu protestieren.

Zum direkten Konflikt mit der Hochschulbürokratie führten die Aktionen bei der 3. Lesung der Notstandsgesetzte. Ihnen war ein Teach-in vorausgegangen, das nach einem theorielosen und rein appelatorischen Referat Werner Hofmanns zwar mit großer Mehrheit den Streik beschloß, aber ohne Diskussion, in einer weiteren Abstimmung die Mittel zu dessen Durchführung (Streikposten, Sitzstreiks, go-ins) verweigerte. Um mit diesen widersprüchlichen Protestformen, die noch den Protestierenden zum heimlichen Komplizen der Herrschenden machen, aufzuhören, beschloß der SDS, der von anderen Studenten unterstützt wurde, die Aufgänge zu den Hörsälen durch Sitzstreiks zu blockieren. Dabei kam es zu einigen Handgreiflichkeiten und zu Attacken einzelner Professoren und deren Hörerschaft; die Blockade wurde jedoch gehalten und durch ein Teach-in im Unihof ergänzt. Es kam zur scharfen Auseinandersetzung unter den Studenten, die (nie unter 500) an die 8 Stunden diskutierten und dann, obwohl die Junge Union Verstärkung herbeigeschafft hatte (zum ersten Mal griffen damit Nichtstudenten organisiert ein) den Sitzstreik nachträglich legitimierten und eine Blockade der Universität für den nächsten Tag beschlossen.

Am Abend fand eine Vollversammlung zur Frage der Grundordnungskommission statt, in der eine knappe Mehrheit den Boykott beschloß. Der SDS hatte aus der historischen Analyse der Autonomie der Universität prognostiziert, daß die jetzigen Protestformen der Studenten gegen die Notstandsgesetze, zum scharfen Konflikt mit der Universitätsbürokratie führen würden, weil sie den realen Inhalt der Autonomie, die politische .Neutralität', nachdrücklich in Frage stellte." Die Einheit des Kampfes gegen Notstandsgesetze und Hochschulgesetz würde durch die Besetzung der Universität hergestellt, die die unpolitische Universität ebenso angreife wie die Gesellschaft, von der diese lebe. Der Neutralitätsbegriff werde seinen Inhalt alsbald enthüllen, wenn die Universität mit einer demokratischen und kämpferischen Opposition konfrontiert werde, die den Konflikt in die Universität selbst trage. Die Interessen der Professoren und die der politischen Studenten liefen gerade unter den Bedingungen der Entleerung der formalen Demokratie, die nur an der gesellschaftlichen Basis bekämpft werden könnte, einander strikt zu wider. Die persönliche Freiheit der Professoren und die ihrer Lehre, werde erst durch die praktische Anpassung an die bestehende Gesellschaft möglich. Diese wirke sich auf die Studenten zunehmend als Zwang aus, den sie bloß durch politische Aktion durchbrechen könnten. Das Hochschulgesetz zementiere die bestehende Universität und die Grundordnungsversammlung sei nur das pseudo-demokratisdae Ornament an einem Gesetzeswerk, das von den Studenten insgesamt bekämpft werde und das vor allem ein Mittel ihrer Domestizierung sein solle. Die Unvereinbarkeit des aktiven Widerstands gegen die Notstandsgesetze mit einer Universität, wie sie das Hochschulgesetz fixiert, sollte durch die Besetzung der Universität demonstriert werden. Die Vollversammlung stimmte mit knapper Mehrheit für den Boykott der GOV. Nach dem Teach-in blieben ca. 70 Studenten in der Universität, die sie gegen morgen verbarrikadierten, da sie von einem geplanten Sturm der NPD und der Verbindungen gehört hatten. Tatsächlich formierten sich diese Sturmtrupps dann auch und begannen zunächst ein allgemeines Geschrei, um dann zum physischen Angriff überzugehen. Dieser, in dessen Verlauf es zu handgreiflichen Auseinandersetzungen kam, gelang weil die NPD-ler durch ein nicht zu überwachendes Fenster in ein Institut einstiegen und von dort aus den Besatzern, die sich verteilt hatten in den Rücken fielen. Kurz zuvor war vom Rektorat unter Berufung auf Art. 48 des HG über Megaphon mitgeteilt worden, daß der AStA suspendiert sei. Das allgemeine Tohuwabohu, das nach der Erstürmung der Universität entstanden war wurde in ein Teach-in im Innenhof der Universität übergeführt, in dessen Verlauf sich die Linie des SDS und des AStA aufs neue durchsetzen konnten. Mit überwältigender Mehrheit wurde eine Rücktrittsforderung des Rektorats angenommen, die man mit der Drohung das Rektorat zu besetzen unterstrich. Von da an hielten die Streikenden die Uni besetzt der Lehrbetrieb wurde eingestellt, ein Streikkomitee wurde gebildet. Die Verbindung zu den naturwissenschaftlichen und medizinischen Fakultäten, die außerhalb der Stadt liegen, konnte trotz Streikzeitung und Flugblätter nicht im ausreichendem Maße hergestellt werden. Die Streikenden hatten jetzt zwar die Uni besetzt, aber da sie ihnen niemand streitig machte, konnten sie nicht allzuviel mit ihr anfangen. Der Gegensatz brach bald — am Freitag vor Pfingsten — unter den Streikenden selbst auf. Einige Genossen hatten sich im Laufe des Nachmittags in das SDS-Büro zurückgezogen, wo sie die weitere Fortführung der Besetzung diskutierten. Sie kamen darin überein, daß man sich statt ihrer auf den AStA zu beschränken habe, für den inzwischen ein komissarischer Verwalter eingesetzt worden war und der direkt vom Polizeieingriff bedroht schien. Als entscheidender Punkt des Konflikts und als Arbeitsplatz sollte er gehalten werden, um nach Pfingsten die Auseinandersetzung mit dem Rektorat weiterzutreiben. Demgegenüber schien die Besetzung der Uni relativ belanglos, da sie zudem nach und nach skurrile Züge anzunehmen drohte. Zu solchen scheinbar abwieglerischen Ansichten gekommen, begaben sich die Genossen zurück in die Universität und stellten ihre Vorstellungen zur Diskussion. In einem Teach-in mit ca. 400 Studenten erhielten sie dafür jedoch keinen Beifall, sondern wurden vor allem von den Genossen im AStA aufs Schärfste angegriffen und der heimtückischen Mauschelei und des Dolchstoßes in den Rücken der Streikenden bezichtigt. Die Auseinandersetzung zwischen SDS einerseits und "Streikenden" und AStA andererseits begann; sie sollte der Universitätsbesetzung nachdem der äußere Gegner sich zurückgezogen hatte, ihren eigentlichen Inhalt geben. Der SDS trug damit zur Fortführung der Besetzung bei, in dem er ihre Richtigkeit bezweifelte. Das konnte jedoch, wie der SDS vorausgesagt hatte, nicht verhindern, daß die Besetzung nach den Pfingsferien nach und nach auseinanderfiel in dem einer nach dem anderen der Streikenden sich individuell zum Heimgehen entschloß und somit genau das eintrat, was befürchtet worden war: statt der Beendigung der Besetzung durch politischen Beschluß und Fortführung des Konflikts durch gezielte Aktion und Besetzung des AStA-Gebäudes, Reprivatisierung der Streikenden und Versanden des Streiks. Es bestand die Gefahr, daß sich alles in Resignation auflösen würde; der SDS, der sich bewußt war, daß er den Rücktritt der Rektorin und die Besetzung des Rektorats (ein Panzerschrank) nicht erzwingen konnte, versuchte die Auseinandersetzung zu verengen, indem er sie auf die juristische Fakultät zuspitzte, deren Ordinarien die Politik des Rektorats eigentlich bestimmten und deren Studenten den Hauptteil der Streikbrecher gestellt hatten. Ein Go-in bei einem der übelsten Reaktionäre, Prof. Schneider, späterer Mitunterzeichner des Marburger Manifests, wurde beschlossen, aber nicht sofort durchgeführt. Immerhin zeichnete sich hier eine Perspektive ab, den inzwischen politischen Konflikt mit der Universität weiterzutreiben und ihm gleichzeitig eine wissenschaftskritische Wendung zu geben.

Die Parlamentsfixierung des AStA zahlte sich schlecht aus. Das Parlament, das die Besetzung der Uni vor Pfingsten gebilligt und unterstützt hatte, mochte diesen Besluß nach Pfingsten zwar nicht zurücknehmen, doch stimmte es in der Grundordnungsversammlungsfrage, in der der AStA inzwischen die Stellung des SDS und der Vollversammlung eingenommen hatte, gegen diesen. Der AStA trat daraufhin zurück. Eine Woche später stellte sich ein neuer SDS-AStA zur Wahl, der nur knapp durchfiel, doch konnte das Parlament auch keinen anderen AStA bilden und löste sich selber auf. Die Parlamentswahl wurden trotz des massiven Eingriffs des Rektorats und der aufwendigen Propaganda des RCDS ein großer Erfolg für den SDS und die Linke, die für einen Boykott der Grundordnungsversammlung eingetreten waren. Das neue Parlament stimmte für den Boykott und wählte einen personell neu besetzten SDS-AStA. Die Zuversicht des Rektorats, das schon Mut zum Angriff auf das politische Mandat geschöpft hatte, verwandelte sich in schlimme Befürchtungen. Diese sollten bestätigt werden; denn trotz Propaganda und Appell an das Harmoniebedürfnis der Studenten, beteiligten sich nur 5 °/o an der Wahl zur Grundordnungsversammlung. Diese wird es im nächsten Semester nicht sehr leicht haben.

11. Zusammenfassung

Die Aktion während der 3. Lesung der Notstandsgesetze zeigten die organisatorische Schwäche des SDS. Schon bei den Sitz-Streiks und erst recht bei der Besetzung der Universität, auch solange diese noch sinnvoll war, war der SDS nur noch durch Individuen nicht mehr als intakte Organisation vorhanden. Die Struktur des SDS, die in vielen der einer bürgerlichen Honoratioren Partei gleicht, wurde durch die Dauerteach-ins reproduziert. Wie schon beim Wahlkampf wurde die politische Argumentation von wenigen Genossen getragen, die ununterbrochen agitierten und Flugblätter verfaßten aber kaum noch Zeit zur geistigen Reproduktion fanden. Sie kommunizierten fast nur noch als Individuen mit der versammelten Masse, kaum mehr in strategischer Diskussion innerhalb der Gruppe, was ihrer Argumentation nicht eben zu Gute kam. Je mehr die Besetzung Aktionscharakter verlor und zum Dauerteach-in wurde, desto mehr verstärkte sich diese Struktur des SDS, was dazu führte, daß sich viel Genossen reprivatisierten und zu der Auffassung kamen, es gehe auch ohne sie, was die Sprecher wiederum noch mehr verselbständigte. Diese Bedingungen verschärften sich für die Genossen im ASTA, die teilweise zunehmend in die Rolle der Volkstribunen gerieten und sich an die perspektivlose Durchhaltepolitik der Massen opportunistisch verloren und so die voraussehbare Resignation, die die Auflösung der Besetzung mit sich bringen mußte, nicht verhinderten, indem sie den Stellenwert der Besetzung genau bestimmten. Statt dessen verbreiteten sie die Feiertagsstimmung einer auf Dauer "befreiten" Universität, was angesichts der Isolierung der Studenten in der Stadt und des allgemeinen Rückschlages der Streikwelle in der Bundesrepublik zum Kleinbürgerlichen Utopismus führen mußte. Als der SDS sich nach und nach wieder sammelte und diese Aspekte der Besetzung zur Diskussion stellte wurde er vom ASTA der mangelnden Solidarität beschuldigt. Die Struktur der Massenteach-ins ohne weiterführende Selbstorganisation der Studenten mußte, weil sie keine strategische Perspektive hatte, solche Hans-Guck-In-Die-Luft-Positionen stärken. Die Einrichtung von kleineren Arbeitskreisen, die überhaupt erst Möglichkeiten der Selbstätigkeit geboten hätten, kam nicht so recht vorwärts und lief außerdem Gefahr, zur bloßen Beschäftigungstherapie ohne politischen Praxisbezug zu verkommen. So blieb den großen Teach-ins die strategische Diskussion vorbehalten. Diese aber konnten organisatorische Perspektiven nur postulieren nicht aber verwirklichen. Als das Rektorat, nachdem die Suspendierung desASTA zur Stärkung des Streiks geführt hatte, sich auf die Taktik des Abwartens verlegt hatte, wurde der SDS gewissermaßen zum Binnenfeind der Streikenden. In der Ablehnung seiner kritischen und selbstkritischen Beiträge fanden die "Streikenden" erst den Ansatz zur Selbstverständigung. So waren Slogans des Inhalts zu lesen, daß der SDS die Besetzung der Uni verraten hätte etc. Es kam zur Gründung einer "Unabhängigen Linken", die aber nicht in der Lage war, alternative Strategien zum SDS zu entwickeln. Nach dem Zusammenbruch der Besetzung zeigte sich, wie richtig es gewesen war, daß der SDS sich nicht opportunistisch in den Streikenden aufgelöst hatte, denn nur so blieb ein fester Kern erhalten, der den Kampf mit der Universitätsbürokratie wieder aufnehmen konnte, als die Illusion einer befreiten Universität an den Realitäten zerschellt war. Der Medianismus von Aktion und Repression als entscheidender Organisationsfaktor mußte versagen, wenn die Bürokratie auf spektakuläre Repressionsmaßnahmen verzichtete. Die Vermittlung zwischen allgemeiner- und hochschulpolitischer Aktion war durch die Besetzung der Universität nicht auch schon organisatorisch hergestellt. Dies konnte nur eine politische Organisation der Studenten am Arbeitsplatz in den Instituten leisten, deren Notwendigkeit abstrakt eingesehen wurde, deren Verwirklichung aber auch heute noch nicht abzusehen ist. Die Hochschulpolitik bekommt dadurch einen anderen Stellenwert: die organisatorische Perspektive für die mobilisierten Studenten wird zu ihrem Kriterium. Daß eine Mitarbeit in der Grundordnungsversammlung diese nicht hatte, wurde von den Studenten allgemein verstanden. Daß deren Boykott allein nicht ausreicht, sondern, daß sie durch eine Politik in den Instituten ergänzt werden muß, zeigte sich schon im Wahlkampf, der vom SDS unter institutsspezifischen Gesichtspunkten geführt wurde. Eine "Beset-zungsstrategie" mit der Absicht der "Revolutionierung der Wissenschaft", bleibt vorläufig abstrakt, doch zeichnen sich ihre Gefahren schon ab. Wenn "Revolutionierung der Wissenschaft" institutsbezogen bleibt, enthüllt sie eine ganze Reihe reformistischer Momente, die durch offensive Kampfmittel wie Institutsbesetzung nicht schon revolutionär werden. Dem SDS stellt sich jetzt, da er die erste Phase der Mobilisierung hinter sich hat, das klassische Problem Jeder revolutionären Bewegung im kleinen: "Die Vereinigung der großen Volksmassen mit einem über die ganze bestehende Ordnung hinausgehenden Ziele, des alltäglichen Kampfes mit der revolutionären Umwälzung, das ist der dialektische Widerspruch der sozialdemokratischen Bewegung, die sich auch folgerichtig auf dem ganzen Entwicklungsgang zwischen den beiden Klippen: zwischen dem Preisgeben des Massencharakters und dem Aufgeben des Endziels, zwischen dem Rückfall in die Sekte und dem Umfall in die bürgerliche Reformbewegung vorwärts arbeiten muß" (Rosa Luxemburg, Politische Schriften III, 1968. S. 103). Diese Problematik wird für die Studentenbewegung dadurch kompliziert, daß sie den organisierten Kapitalismus in der Universität bekämpfen muß, wo er sich erst durchzusetzen beginnt und bis jetzt keineswegs Organisationsformen schuf, die den Keim der sozialistischen Ordnung aus sich heraus trieben. Diese Mechanik ist im organisierten Kapitalismus ohnehin problematisch geworden, ganz gewiß aber für die Universität, wo die Funktionalisierung der Wissenschaft deren emanzipatorisches Element unterdrückt und die traditionelle Organisation nach wie vor das private Individuum begünstigt, das auf Erhaltung seiner Privilegien dringt, aber kaum auf die Abschaffung der Privilegien selbst. Die Studentenbewegung entstand nicht als Ausdruck eines spontanen Kampfes für unmittelbare Interessen, der sich nachträglich politisiert hätte. Erst ihr allgemeinpolitischer Impuls gab ihrem Kampf gegen die Universität Richtung und Inhalt. Die Forderung nach Selbstbestimmung an der Universität wurde erst sinnvoll, als sich zeigte, daß dieser Impuls durch die bestehende Universität ständig gebrochen wird. Das unmittelbare Interesse treibt die Studenten in den Konkurrenzkampf, vereinzelt sie und treibt sie auf die Seite der Herrschenden. In seinem ideologischen Charakter kann dieses unmittelbare Interesse nur durch allgemeinpolitische Reflexion durchschaut werden. Die Dialektik von Reform und Revolution trifft für die Studentenbewegung nicht ohne weiteres zu. In der Auseinandersetzung an der Universität darf sie ihren allgemeinpolitischen gesamtgesellschaftlichen Anspruch nicht aufgeben. Dies könnte der Fall sein, wenn sie in ihrer Organisation die Struktur der Universität reproduziert, eine Gefahr, die in der Institutspolitik liegt. Die Organisation der Studenten am Arbeitsplatz mit dem Ziel der Revolutionierung der Wissenschaften läuft Gefahr mit einer Revolutionierung der Philosophischen Fakultät zu enden. Der allgemeine politische Konflikt muß zwar immer wieder in die Universität zurückgeholt und dort konkretisiert werden, er darf dabei aber seine Allgemeinheit nicht verlieren. Wird andererseits eine "Dezentralisierung" nicht erreicht, dann bleibt die Trennung von Studium und Freizeitpolitik erhalten und die Selbsttätigkeit der Genossen sowohl als auch der mobilisierten Studenten gleicht weiterhin der passiven Rolle des Publikums, die den Begriff der Bewegung ad absurdum führt und subkulturelle Strukturen hervortreibt, die die Bürokratisierungstendenzen der Gesellschaft reproduzieren. Der Rückfall in den Sektencharakter ist dann absehbar. Die Entscheidung über diese Entwicklung fällt jedoch nicht an der Universität; sie hängt davon ab, ob der Ausbruch aus dieser gelingt und die Herausbildung einer revolutionären Organisation, für die die "Institutsstrategie" einen Teilbereich darstellt und nicht mehr.