Der Mersey Beat
Das Erfolgsgeheimnis
des Liverpooler Systems
Wenn sich die Beatszene an den Ufern des Mersey von der an der Themse einerseits durch die grundlegenden Wertvorstellungen unterschied - Little Richard im Vergleich zu Presleys Rhythm and Blues und dieser im Vergleich zu Rockabilly, der harte, aggressive Großstadtsound im Gegensatz zur Naivität und Sentimentalität von Country and Western -, so gab es andererseits noch den prinzipiellen und entscheidenden Unterschied der wirtschaftlichen Verhältnisse. Die Liverpooler Jugendlichen konnten für ihr Vergnügen nicht soviel zahlen wie ihre Altersgenossen im Süden. Deshalb amüsierten sie sich zu Hause. Armut war der Hauptgrund für den Aufstieg der wichtigsten Institution des Mersey Beat - des Liverpooler Tanzsaals. Um zu verstehen, was die Tanzlokale dieser Stadt von allen entsprechenden Einrichtungen im übrigen England unterschied, müssen wir zunächst eine Vorstellung von dem allgegenwärtigen britischen Treffpunkt und Paarungsplatz der Teenagerszene, dem Tanzsaal, gewinnen.
Anders als in den Vereinigten Staaten, wo die meisten Tanzsäle nach dem Zweiten Weltkrieg geschlossen wurden, weil die Bigbands aus der Mode kamen, blieben diese altmodischen Institutionen in England erhalten und wurden zu zwei überregionalen Ketten zusammengeschlossen - den Mecca Ballrooms und den Top Rank Dance Suites. Der typische Tanzsaal befand sich in einem heruntergekommenen Filmpalast der verödenden Innenstädte. Für die Musik sorgte eine Tanzkapelle, die abwechselnd Quicksteps und langsame Walzer spielte. Alle halbe Stunde rotierte die Drehbühne, und es erschien eine neue Band. Die Tanzsäle waren repressiv und exklusiv. Aus Prinzip wurden in der Mecca-Kette immer wieder bestimmten Gruppen der Eintritt verwehrt - mal den Teddy Boys, mal den Seeleuten, dann wieder den Farbigen, den Juden oder den Taubstummen. Um sicher zu gehen, daß die mageren, unterernährten Arbeiterjungen keinen Ärger machten, waren am Eingang zwei hünenhafte Aufseher, oder Saaldiener, postiert, tatsächlich Rausschmeißer im Smoking und mit Schlagringen in der Tasche.
In Liverpool gab es wie überall im Königreich Mecca- und Rank-Etablissements. Der Unterschied war nur, daß sie in der lokalen Jugendszene keine Rolle spielten. Die Liverpooler Teens paßten nicht in das englische Schema. Statt die Innenstadt aufzusuchen, auf den genormten Paarungsplätzen herumzuhängen, sich den spärlichen Lohn abknöpfen und sich von den Schlägern in Smoking einschüchtern zu lassen, blieben die jungen Leute in ihren Vierteln und machten dort eigene, improvisierte Tanzsäle auf. Sie bestiegen abendseinen Corpy, (einen Doppeldecker, der von der Stadtverwaltung, City Corporation, eingesetzt wurde), fuhren in ein Gemeindehaus der Stadt, des Dorfes oder der Kirche, wo irgendein Freizeitveranstalter einen Tanzabend organisiert hatte. Hier, auf heimischem Boden, unter Nachbarn und Schulkameraden, konnten sich die Jugendlichen nach ihrem Geschmack amüsieren. Sie konnten nach der Musik ihrer Lieblingsbands tanzen, statt nach den altmodischen Melodien, sie konnten die Kleidung tragen, die ihnen gefiel, und sie konnten die neuesten und verrücktesten Tanzschritte ausprobieren, was in den Tanzsälen verboten war, wo überall Schilder hingen mit der Aufschrift: NO JIVING.
Das Erfolgsgeheimnis des Liverpooler Systems lag in seiner extremen Sparsamkeit. Der Eintritt war billig und angeboten wurden nur alkoholfreie Getränke und Kartoffelchips. Eine lokale Beatband bekam sieben oder acht Pfund pro Abend, so daß der Veranstalter mehrere Gruppen verpflichten und ununterbrochen Musik anbieten konnte. (Die Bands konnten ihrerseits von einem Engagement zum anderen tingeln und schafften auf diese Weise bis zu drei Auftritte pro Nacht!) Die Gesamtkosten für einen Tanzabend einschließlich Saalmiete, Verstärkeranlage, Kartenabreißer, Rausschmeißer, Putzfrauen und Plakaten überstiegen nur selten fünfzig Pfund.
Als der Mersey Beat an Beliebtheit gewann, bekamen mehr und mehr Jungen Lust, in einer Rockgruppe zu spielen, und eine immer größere Zahl von Geschäftsleuten und Geschäftemachern zeigte Bereitschaft, solche Tanzabende zu veranstalten, die sich wachsenden Zuspruchs bei den Jugendlichen erfreuten. Schließlich war die kritische Masse für eine echte Musik- und Tanzmode erreicht. Plötzlich war ganz Liverpool von ihr ergriffen, wie das tango-infizierte Buenos Aires der zwanziger, das jazz-berauschte Kansas City der dreißiger oder das swing-selige New York der vierziger Jahre. Auf der Höhe der Mersey Beat-Begeisterung, angeheizt von dem Erfolg der Beatles, gab es 350 Bands in der Stadt, ungezählte Lokale, in denen Abend für Abend Rockmusik angeboten wurde, und sogar eine Rockzeitschrift - Mersey Beat. In einigen alten viktorianischen Ballsälen, die Tausende von Menschen faßten, spielten nicht abreißende Ketten von Rockbands die Nächte durch. Die Besucher wurden mit Sonderbussen und -fähren herbeigeschafft - und das alles in einer Stadt, wo noch ein paar Jahre zuvor um zehn Uhr abends, wenn die letzte Straßenbahn von der Haltestelle Lime Street abfuhr, die Bürgersteige hochgeklappt wurden. Eine solche Szene hat es in der dreißigjährigen Geschichte des Rock'n'Roll an keinem anderen Ort der Welt gegeben. Nur in Liverpool - wo die Menschen keinen Einschränkungen unterworfen waren, weil sie keine andere Existenzgrundlage hatten als ihren Lebensmut - war dieses tolle Fest des Rock'n'Roll denkbar.
Doch man kann Liverpool nicht als Paradies des Rock'n'Roll preisen, ohne zugleich darauf hinzuweisen, daß es auch die Hauptstadt des durch den Rock entfesselten Gewaltinfernos war. Seit der ersten Vorführung des Bill-Haley-Films Rock Around the Clock hatten die lokalen Straßengangs den Rock zu ihrer Musik und die Tanzsäle zu ihren Schlachtfeldern erkoren. Woche für Woche traten die Holly Road Boys, die Ferry Boys, die Park Gang und zahllose andere an, um ihr Territorium zu verteidigen. Trafen sie im heimischen Tanzsaal auf rivalisierende Banden, provozierten sie die Gegner so lange, bis diese explodierten. Aus Rock'n Roll wurde Rock'n Radau.
Eine anschauliche Schilderung der kriegsähnlichen Zustände auf den Liverpooler Tanzböden lieferte Allan Williams, der erste Manager der Beatles, der ein solches Ereignis eines Abends im Garston Baths erlebte, vom Volksmund Blood Baths genannt. In der Vorwoche war eine Gang mit dem schönen Namen The Tigers nicht in den Tanzsaal hineingelassen worden, weil eines ihrer Mitglieder eine Mülltonne durchs Fenster geschleudert hatte. Am nächsten Samstag wappneten sich die Rausschmeißer, große, kräftige Männer, die dicke Lederhandschuhe trugen und lange Knüppel schwangen, für die Rückkehr der Tigers. Statt dessen erschienen jedoch die Tanks, eine Gang, die ihren Namen der Schlachtphalanx verdankte, in der sie antrat. Die Tanks verhielten sich bemerkenswert friedfertig, zahlten ohne Protest ihre Eintrittskarten, tanzten höflich mit den Mädchen und boten in jeder Hinsicht den Anblick guterzogener Jugendlicher. So wiegten sie die Rausschmeißer in falscher Sicherheit, als die Tigers ihren Überraschungsangriff starteten. Brüllend stürzten sie zur Eingangstür herein, gerüstet mit allen Waffen aus dem Arsenal der Straßengangs - Klappmessern und Rasiermessern, Fahrradketten und Stiefeln mit Stahlkappen. Als sich die Rausschmeißer tapfer umwandten, um der unvermuteten Gefahr zu begegnen, bildeten die Tanks ihre gefürchtete Phalanx und griffen die Aufseher von hinten an. Es wurde ein tödlicher Kampf.
Aus: Goldman, Albert, John Lennon - ein Leben, Reinbek 1989, S.121f