Parasiten
des Jazzkellers

Aus: Muchow, Hans-Heinrich, Sexualreife und Sozialstruktur der Jugend, Rowohlts Deutsche Enzyklopädie, Reinbeck, 1959, 10. Auflage, 1968*, S.143f

Hatten wir im Vorhergehenden den Ausbruch der Jazzfans mehr sozialpsychologisch zu verstehen versucht, so enthält er doch auch eine individualpsychologisch faßbare Motivation. Der Jugendliche ist dem Ursprung der Lebenskraft noch nahe; seine Kraft ist noch unverbraucht und gleichsam neu. Überdies ist er soeben (im Erwachen des Geschlechtstriebs) sexuell, (im Längen- und Breitenwachstum) körperlich und (im Erwachen des Selbstbewußtseins) seelisch-geistig mit einem Antriebsüberschuß beschenkt worden. So verspürt er einen für uns Erwachsene kaum vorstellbaren Drang nach einem intensiveren und reicheren Leben. Der junge Menseh ist daher in jedem Augenblick bereit, sein jeweils gelebtes Leben um der bloßen Lebenserhöhung und Lebensfülle willen zu übersteigen. Er möchte seinen "Lebenshunger" befriedigen und ihn - sei es auch nur vorübergehend - absättigen.



"Im Jazzkeller"
aus: Jugend in Beruf und Freizeit, 1959

Die heutige zivilisatorische Umwelt bietet wenig Möglichkeiten dafür: sie ist befriedet, organisiert und dem Abenteuer abhold. So verläuft das Leben ohne Inhalte, es ist leer und langweilig, und der junge Mensch verplempert die große Sehnsucht nach einem spannungsreichen und erfüllten Leben fast zwangsläufig in dem "kleinen Rausch" in der Onanie, in der Besäufnis, im Kinorausch, in der begrenzten Opposition, im "Halbstarken"-Krawall, in der "Kriminalität ohne Motiv", bei der das entscheidende Erlebnis nicht die vollzogene Tat, sondern das Gefühl ist, "wie herrlich ist dann das Gefühl, Angst zu haben"! Oft bildet sich, lange angestaut (weil die erwähnten "kleinen Räusche" nicht genügen), geradezu ein Affekthunger heraus, ein süchtiger Drang nach Spannung des Lebensgefühls, der in den Ordnungen der Familie, der Schule und der Berufslehre keine Erfüllungen findet. Der Jugendliche tritt den Weg in die Katakomben, in die Jazzkeller an, verlockt durch überspannte Erwartungen einer Unterwelt-Atmosphäre, angespornt durch den Reiz des Verbotenen und magisch angezogen durch das Fluidum einer scheinbaren Untergrund- oder Widerstandsbewegung. In die "Mysterien der Galerie Vierzwo", oder des "Nassen Handtuchs" eingeweiht zu werden, scheint Erfüllung der Sehnsucht nach einem intensiveren Leben zu bieten und scheint den Lebenshunger stillen zu können. Doch sind diese Besucher der Jazzkeller nicht eigentlich Jazzfans, sondern parasitäre Existenzen, denen dann auch der tiefere Sinn der Jazzmusik verschlossen bleibt.

* Gesamtauflage 90.000, galt in den 60er Jahren als Standardwerk für LehrerInnen und ErzieherInnen

HANS HEINRICH MUCHOW, Jahrgang 1900, Sohn eines Zollinspektors geboren. Nach dem Besuch des Heinrich- Hertz-Realgymnasiums zu Hamburg und dem Studium der Philosophie und Psychologie sowie der Geschichte, Germanistik und Kunstgeschichte ab 1923 im Schuldienst der Freien und Hansestadt Hamburg. Erste Veröffentlichung: Der Lebensraum des Großstadtkindes, Hamburg 1935