Uwe Bergmann

Das Vietnam-Semester 1965/66

Kein politisches Ereignis hat in den Diskussionen und bei der Politisierung der Studenten eine so entscheidende Rolle gespielt wie der Vietnam-Krieg. Die Beschäftigung mit diesem Krieg sollte zum ersten massiven Zusammenstoß mit der außeruniversitären Ordnungsmacht führen. Zwar hatte es schon vorher außerhalb der FU studentische Aktionen und Veranstaltungen zu politischen Themen gegeben (1958 veranstalteten in Berlin verschiedene pazifistische und linksorientierte Studentengruppen einen "Atomkongress" gegen die nukleare Aufrüstung, im Dezember 1964 demonstrierten deutsche und afrikanische Studenten gegen den Besuch Moïse Tschombés, im März 1965 gegen eine Südafrika-Werbe-Woche), aber die Auseinandersetzung mit den Verbrechen eines Landes mit demokratischem Anspruch, den Verbrechen der USA in Vietnam, war ein entscheidender Motor der studentischen Bewegung.

Seit dem Sommersemester 1964 betrieb besonders der SDS eine intensive Aufklärungskampagne über Vietnam. Filmveranstaltungen, Podiumsdiskussionen und besonders Presseschau-Veranstaltungen, in denen die Informationen ausländischer Zeitungen mit denen westdeutscher verglichen wurden, trugen dazu bei, daß die Diskussion über den Vietnam-Krieg in der Studentenschaft einen breiten Raum einnahm. Nicht nur das Rektorat versuchte, diese Veranstaltungen zu behindern, indem es vom SDS in immer größerem Maße die Einhaltung von Auflagen und Formalien verlangte, auch in der Stadt Berlin und in ihrrr Presse setzte eine Kampagne gegen ein solches Engagement ein, die einen vorläufigen Höhepunkt am 18. Januar 1966 in einem Bombenanschlag gegen eine Vietnam-Diskussion (veranstaltet von den Falken - d.Red.) im Studentenhaus der Technischen Universität fand. Da die Berliner Presse diese Bombe bagatellisierte und den Vorfall zum Anlaß nahm, gegen den Inhalt dieser Veranstaltung zu polemisieren, wurden viele Studenten von der Notwendigkeit überzeugt, ihr politisches Engagement aus dem Seminarzirkel heraus in die Stadt zu tragen. Bestärkt durch die zynische Freiheitsglockenaktion der Berliner Zeitungsverleger zu Weihnachten 1965 und durch die trotz ständiger Wiederholung nicht einsichtiger werdende Behauptung, Berlins Freiheit werde in Vietnam verteidigt, beschlossen mehrere Hochschulverbände, am 5. Februar 1966 in der City gegen den Vietnam-Krieg zu demonstrieren. Einen Tag vorher wurden vier SDS-Studenten bei einer nächtlichen Plakataktion festgenommen. Auf ihren Plakaten stand, daß die westdeutsche und West-Berliner politische Führung den Völkermord in Vietnam unterstützten und daß dieses Verbrechen sich offenbar sehr wohl mit dem demokratischen System dieser Staaten vereinbaren lasse. Die vier Studenten waren noch in Haft, als die große Demonstration sich auflöste und mehrere hundert Demonstranten vor das Amerika-Haus zogen, um sich dort zu einem Sitzstreik niederzulassen. Polizeieinheiten versuchten, sie mit Gewalt zu zerstreuen; es gab auf seiten der Demonstranten Verletzte. Aus der Menge wurden sechs Eier gegen die Fassade des Amerika-Hauses geworfen.

Einen Sprengkörper gegen eine studentische Veranstaltung hatte die Berliner Presse als einen Silvesterscherz behandelt; jene sechs Eier gegen ein Gebäude versetzten das offizielle Berlin jedoch in Panik, sie wurden zum Gegenstand von Schlagzeilen und Leitartikeln. Der Regierende Bürgermeister und der Rektor der FU schrieben devote Entschuldigungsbriefe an den amerikanischen Stadtkommandanten und stellten sich damit öffentlich hinter die Vemichtungspolitik der USA. Drei Tage später zeigte sich auf einer Gegendemonstration der CDU vor dem Amerika-Haus, an der ungefähr 150 Personen teilnahmen, wie weit Teile der Berliner Bevölkerung durch die Presse und durch Äußerungen von Politikern, besonders des Beauftragten der Bundesregierung Emst Lemmer, faschisisiert worden waren. Kritiker der Kundgebung wurden von CDU-Demonstranten zum S-Bahnhof geprügelt, gezwungen, Fahrkarten "nach drüben" zu kaufen und wurden an den Haaren auf den Bahnsteig geschleift. Zum erstenmal erfuhren Studenten am eigenen Leib, was die "besondere Situation Berlins" bedeutete, mit der ihnen schon vorher gedroht worden war. Sie mußten erkennen, daß man in Berlin nur für eine Seite der Freiheit und gegen eine Form der Unfreiheit demonstrieren darf, und sie merkten, wie der "Gründungsgedanke" der Freien Universität in einem Sinn interpretiert wurde, den sie gerade nicht anerkennen wollten: nämlich daß die FU als antikommunistische Kampfuniversität entstanden sei, deren Freiheit sich einzig aus der Unfreiheit der Humboldt-Universität ableitet.

Die Universitätsbehörden versuchten nun, den begonnenen Politisierungsprozeß ihrer Studenten endgültig zu zerschlagen. Am 16. Februar 1966 beschloß der Akademische Senat, keine politischen Veranstaltungen in den Räumen der Universität mehr zu genehmigen. Er verstieß damit gegen die Universitätsordnung, die den studentischen Vereinigungen ausdrücklich Räume für ihre politische Bildungsarbeit zur Verfügung stellt. Der AStA trat unter Protest gegen diesen Beschluß zurück und leitete eine Rechtsaufsichtsbeschwerde beim Senator für Wissenschaft und Kunst ein. Auch der Beauftragte des Senats für politische Bildung, Prof. Sontheimer, kritisierte den Senat; als er seinen Rücktritt anbot, wurde er seines Postens enthoben.

Aus : Bergmann, Dutschke, Lefèbre, Rabehl, Rebellion der Studenten, Reinbeck, Mai 1968, S. 18ff