ZEIT Nr. 15 - Seite 11, Freitag den 14. April 1967, LänderspiegelBerliner Notizen
Elf
kleine
OswaldsVon Kai Hermann
Aus den Seiten der Berliner Boulevardpresse tröpfelte Blut - potentieller Präsidentenschweiß floß als pikante Abwechslung auf Frühstücksstische. Wie aus einer Rotationsmaschine schockten die Schlagzeilen den schreckerprobten Inselbewohnern den Schlaf aus den Augen. "Bild"-Berlin schaffte es am größten, gerade ein bißchen größer, als beim Präsidentenmord von Dallas. Mehr als eine halbe Frontseite schwärzte die Hiobszeile: "Berlin: Bombenanschlag auf US-Vizepräsidenten." Darunter erfuhren Bild-Leser: "Mit Bomben und hochexplosiven Chemikalien, mit sprengstoffgefüllten Plastikbeuteln - von den Terroristen ,Mao-Cocktail` genannten - und Steinen haben Berliner Extremisten einen Anschlag auf den Gast unserer Stadt vorbereitet."
Erst einige Zeilen später konnten die Berliner aufatmen. Sie lasen, die Polizei habe das gemeine Bubenstück vereitelt. Elf kleine Oswalds säßen bereits hinter Gittern und erwarteten eine Strafe bis zu fünf Jahren Zuchthaus.
Am nächsten Morgen freilich tranken die "hirnverbrannten Verschwörer" ihren Kaffee wieder in mißbrauchter Freiheit und schmiedeten bereits neue Attentatspläne. Der Richter hatte keinen Haftgrund finden können.
Der Pudding war noch nicht kalt
Eine Geschichte, wie sie wohl nur das politische Leben im Westen Berlins schreiben kann. Es waren da elf junge Leute, die ein beliebtes amerikanisches Gesellschaftsspiel mit dem amerikanischen Vizepräsidenten spielen wollten. Im Dachkämmerlein eines Dichters rührten sie Pudding, den sie anderntags dem.Vizepräsidenten an den Kopf werfen wollten. Nun läßt sich über nichts so sehr streiten wie über Humor. Das wußten auch die jungen Leute. Und deshalb planten sie, ihren Ulk mit rotem und weißem Nebel den Blicken Andersdenkender zu entziehen.
Doch der Pudding war noch nicht kalt, da klopfte es an die Tür. Die vielen Köche, kaum im Gewahrsam der Staatsgewalt, da lief schon eine Eilmeldung um den Erdball. Berlins Polizei schickte die Nachricht um die Welt: Personen seien "unter verschwörerischen Umständen zusammengekommen und haben dabei Anschläge gegen das Leben oder die Gesundheit des amerikanischen Vizepräsidenten Humphrey geplant". Die "Times" machte mit den mutmaßlichen Puddingmördern auf, die "New York Times" gab ihnen die Frontseite, Rundfunk- und Fernsehstationen überall auf dem Globus ließen ihre Teilnehmer um das Präsidentenleben zittern.
Innerhalb der Mauer stimulierte die Schreckensmeldung journalistische Frontstadtphantasie zu Höchstleistungen. Die zitierten Redakteure von "Bild" sollten sich in dieser kritischen Phase als Stümper entlarven. Ihre Kollegen schlugen sie mit Längen. So der sonst im Schatten der Springer-Konkurrenz vegetierende "Abend", der in seiner Schlagzeile enthüllte: "Maos Botschaft in Ostberlin lieferte die Bomben gegen Vizepräsident Humphrey." Oder die "Berliner Morgenpost", die es am genauesten wußte: "Die Polizei überraschte mehrere kommunistisch orientierte Westberliner Studenten beim Abwiegen von Sprengstoff in behelfsmäßige kleine Granathülsen und beim Einfüllen einer ätzenden Säure in Plastikbeutel. Die Demonstranten wollten sich heute in das Schöneberger Rathaus einschmuggeln und mit den Granaten . . . gegen Humphrey vorgehen."
Wie weit die Wurzeln dieses aus Peking ferngesteuerten Komplotts reichten, konnte der Leser indes nur vage ahnen. Dunkel schwante ihm, daß die gesamte Linksinteligentsia ihre Finger mit im Sprengpudding gehabt haben mußte. Er erfuhr: Die Meuchelmordwerkzeuge waren in der Wohnung des Schriftstellers Uwe Johnson geschmiedet worden. Welch ein Zufall - Günter Grass pornographiert just im Nebenhaus. Die Frau von Hans Magnus Enzensberger füllte die Granaten. Sein Bruder probierte sie an unschuldigen Grunewald-Kiefern aus. Der sozialdemokratische "Telegraph" machte sicherheitshalber Enzensberger noch zum Vater eines Sohnes, der, wie embryonal auch immer, das Präsidentengift mitmischte.
Mit Journalismus hatte all das nichts mehr gemein als Druckerschwärze und Zeitungspapier mit einer Wild-Westberlin-Romantik, die nicht sterben will, ist es halb zu erklären: Rothäute überall, auf dem Kurfürstendamm, in den Hörsälen der FU, begierig auf den Skalp eines amerikanischen Vizepräsidenten - und kämen sie direkt aus Peking schlitzäugig und -ohrig in das Fort geschlichen. Das tapfere Berlin trotzt ihnen.
Zwischen Marx und Freud
Wer sind nun seine mordverdächtigen und schlagzeilenträchtigen Gegner? Acht Knaben und drei Mädchen, übervoll von politischen und sexuellen Problemen. Hin- und hergerissen zwischen Marx, Mao und Freud fanden sie sich zu einer Kommune zusammen. Dort teilen sie materielle Güter, Liebesprobleme und Leibeslust genossenschaftlich. Im Inneren streiten sie sich darüber, ob ein Salzfaß auf dem Kommune-Tisch unstatthaften Individualismus dokumentiert, und nach außen richten sie alles Trachten darauf, "den Alltag zu revolutionieren", den "staatlich verordneten Unsinn lächerlich zu machen".
Zu eben diesem Zweck rührten sie am Vorabend des Vizepräsidentenbesuchs in Westberlin Pudding an, erstanden aus der Gemeinschaftskasse in einer Konditorei eine Buttercremetorte; füllten Weizenmehl und Joghurt in Plastikbeutel ab. Zudem kauften sie in einer Berliner Chemiekalienhandlung hundert Gramm Kaliumchlorat - wie es in jedem "Kleiner Chemiker-Kasten" für 12- bis l5jährige enthalten ist - rauchentwickelndes Ammoniumchlorid, Kiselgur, Laktose (Milchzucker) und den Farbstoff Sudan. Das Ganze wurde gut gerührt und in Klebstreifenhülsen gefüllt. Das hätte, nach dem aus Amsterdam stammenden Rezept der Provos, Rauchkerzen ergeben müssen. Ein Probe-Attentat im Grunewald ergab allerdings, daß die Dinger weder recht brannten noch genügend Rauch entwickelten.
Enzensbergers ungeborener Sohn
Und ihre arrivierten Hintermänner? Uwe Johnson - für einige Monate im US-Exil, kabelte seine Anweisungen an Günter Grass. Und der nahm weisungsgemäß Fühlung mit den Puddingattentätern auf. Er setzte die Johnson-Untermieter unverzüglich an die Luft. Hans Magnus Enzensberger lieh den Verschwörern nur seinen ungeborenen Sohn aus. "Bomben", "Granaten", "hochexplosive Chemikalien", "Mao-Cocktails", "Anschlag auf das Leben des Vizepräsidenten", gesteuert von der chinesischen Botschaft. Was davon blieb, waren Bleistiftgroße Rauchkerzen, die nicht funktionierten und, wie die "BZ" konstatiert, ein "Abgrund an Gesinnungslumperei". Lachen über dieses Berliner Boulevardstück bleibt dennoch im Halse stecken. Denn eine Polizei die Mehl nicht von Dynamit, Joghurt nicht von ätzenden Chemikalien, Rauchentwickler nicht von lebensbedrohenden Bomben unterscheiden kann, durfte den Dank des Regierenden Bürgermeisters und der drei Rathausparteien entgegennehmen. Ein Polizeipräsident, der eine Meldung in die Welt setzte, die Berlin nach Texas versetzte, muß auf die wohlverdiente vorzeitige Pensionierung verzichten. Die Zeitungen, die das Grusical inszenierten, haben ihre Falschmeldungen bis heute nicht erklärt oder gar entschuldigt. Die Provos wollen weiter Pudding rühren, da ihre Aktionen "längst noch nicht das für diese Stadt nötige Maß erreichten, um den bornierten Provinzialismus aufzureißen".
Sie gehören untrennbar zusammen: "Bild , "BZ", "Morgenpost",. eine hysterische Polizei und jene Provos, die von ersteren aus ganz Europa magisch nach Berlin gezogen werden. Wo sonst könnte man auch als verhinderter Buttercremewerfer die Aufmerksamkeit der Welt auf sich lenken?